Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer
Wo: Theater der Künste, Bühne A
Wann: 15.01.2015 bis 17.01.2015
Bereich: Theater

Der Autor

Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)

Die Kritik

Lektorat: Gabriele Spiller.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Christian Felix, 15.1.2015

Das Gewicht der Trauer stemmen

«Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer» oder «Wer putzt dir die Trauerränder weg?» – ein wortreicher Doppeltitel, ein breit angelegtes, wortreiches Theaterstück. Es setzt mit einer Bestattungsfeier ein. Acht Frauen und ein Mann tragen schwarze Kleider. Der Tote ist mit einem weissen Rock, der Andeutung eines Leichenhemds, bekleidet. Er legt sich mit seinem nackten Oberkörper auf den Erdboden, sinnbildlich dafür, dass sein vergänglicher Körper sich wieder in Erde auflöst. Dies alles geht in einer mächtigen Kulisse (Viktoria Riedo-Hovhannessian) vor sich. Eine bunkerartige Betonwand mit rechtwinkeligen Öffnungen steht im Blickfeld der Zuschauer. Davor ein mit Erde bestreutes Rechteck, das man als Friedhof deuten kann. In der grössten Wandöffnung befindet sich die Friedhofskapelle. Die Figuren sprechen über ihre Trauer: betroffen, teils auch zynisch und zänkisch. Aus ihrer Rede geht hervor, dass der Tote ein junger Selbstmörder ist. Schlimm für die Hinterbliebenen.

Die Last des Lebens

Die ganze Anlage des Stücks ist bombastisch: Betonwand, zehn Darsteller, mächtige Tonkulisse, zum Wahnsinn gesteigerte Gefühle, die über eine entsprechende Choreografie zum Ausdruck gebracht werden. Die Bedenken, ob die Inszenierung und der Inhalt des Stücks dieses Gewicht zu tragen vermögen, begleiten einen während der Aufführung. Als wäre es ein Sinnbild für diesen Zustand, versetzt eine glatzköpfige Frau – mithilfe der Bühnentechnik – die schwere Betonwand. Ein Unterfangen, das nicht ganz klappt.

Der Nervenstrang von «Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer» ist der Text der Autorin Katja Brunner. Es sind kunstvolle gestaltete Zeilen. Ihre Mehrdeutigkeit lässt den Dialog immer wieder auf eine neue Ebene springen. Dies macht die Spannung des Stücks aus. So kommt die Rede vom Tod des «Selbstmörders» auf die moralische Verurteilung des Mordes, die auch den Toten trifft, den Mann der sein einziges Leben wegwirft: «Eine Katze hat sieben Leben, du hattest nur eines». Vom Lebensende kommt die Rede auf den Lebensanfang. Die Existenz des Gestorbenen war absichtslos. Er entstand durch einen Geschlechtsakt, dessen einziger Zweck die Lust und die Erleichterung von Spannung war. Wenige Minuten nachdem der Vater ejakuliert hat, schläft dieser ein, während im befruchteten Ei schon die Zellspaltung beginnt. Mehr nicht. Das Leben ist nichts, das Leben ist alles. Dieser Themenstrang beschäftigt die Figuren genauso wie ihre Trauer. Oder er umfängt ihre Trauer.

Leben und Tod, Feuchtigkeit und Fruchtbarkeit, Körper und Erde sind die Bestandteile, aus denen das Stück einen grossen Teil seines Inhalts formt. Dies nicht nur in Worten. Die Figuren legen sich auf die Erde – die Männer auch nackt – benetzen die Erde, wälzen sich darin. Eine Frau erzählt, wie sie im Strand in den Sand eingegraben wird. Sie geniesst das Gefühl, bis auch ihr Mund, ihre Nase und ihre Ohren mit Sand gefüllt sind. So erstickt sie in Mutter Erde.

Expressive Inszenierung

Auf einer zweiten Schiene berichtet das Stück in seinem Verlauf aus dem Leben des Mannes, der sich umgebracht hat. Aus dem Gemenge der Figuren schält sich eine Mutter heraus sowie zwei Schwestern. Ansatzweise sind die Frauenfiguren allmählich in ihrer Funktion zu unterscheiden. Eine jede hat auch ihre eigene Sprechweise, jede ihre Art zu tanzen. «Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer» jedoch ist expressives Theater. Es ist eine Explosion von Ausdruck. Vieles läuft gleichzeitig. Wenn man den Bewegungen der glatzköpfigen Frau folgt, die wie Taubstummenzeichen wirken, verpasst man, das im Hintergrund der lebendige Mann den Toten wie eine Statue durch den Raum trägt. Es gibt kaum einen Augenblick, den man festhalten könnte. Auch manche Redesequenz geht in der Tonkulisse unter. Damit macht die Inszenierung (Heike-M. Goetze) die Zuschauer zu Mit-Regisseuren. Je nachdem, wen und was man mit Augen und Ohren verfolgt, entsteht ein anderes Stück.

Davon, dass sich die Trauer am Ende in einen giftig gasförmigen Aggregatzustand verwandelt hat, zeugen folgende Sätze: «Einer stutzt sich seine Schamhaare und denkt an seine Grossmutter». Sowie: «Einer erhält die Diagnose Lungenkrebs und sagt es als erstes seinem Vorgesetzten.» Das ist wirklich traurig. Erfreulich dagegen, dass die Schauspieler in einem gemeinsamen Kraftakt das Bühnenstück zu stemmen vermögen und das Publikum mitreissen. – Es spielen: Eugénie Anselin, Sofia Elena Borsani, Noémie Alexa Fiala, Antonia Michalsky, Sandra Marina Müller, Nicolas Müller, Annina Polivka, Alina Vimbai Strähler, Patrick Balaraj Yogarajan, Jördis Wölk.

 

Weiterlesen: