65. Berlinale - Der Rückblick

Die Veranstaltung
Was: 65. Berlinale
Wo: Berlin
Wann: 05.02.2015 bis 15.02.2015
Bereiche: Film+Fotografie, Gesellschaft
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Von Christian Felix, 5.3.2015
Berlinale 2015 – Identitäten
Vom Jubel zum Ingrimm, vom halbgefrorenen Sprühregen zur Vorfrühlingssonne: Berlin und die Berlinale warteten 2015 mit Kontrasten auf. Das ist natürlich jedes Jahr so. Beim Besuch der 65. Berlinale traten sie jedoch deutlicher als sonst hervor. Dies hängt möglicherweise mit dem Verlauf des individuellen Besucherprogramms zusammen.
Wo ist das Festival geblieben?
Zuweilen läuft es wie verhext: Die beiden Filme, die man am liebsten sehen würde, laufen zur gleichen Zeit und für den dritten sind keine Kinokarten mehr erhältlich. Umso grösser die Freude am ersten Abend. Kurz vor Filmbeginn im Paradepalast des Films der ehemaligen DDR, im «Kino International», Karten für einen Wettbewerbsbeitrag: «Journal d’une femme de chambre» des französischen Regisseurs Benoit Jacquot. Etwas Skepsis kommt von Anfang an auf. Luis Buñuel, seines Zeichens Kultregisseur, hat den Stoff weltbekannt gemacht. Zuvor wurde das «Journal» schon mal verfilmt. Es fragt sich, ob es der neuen, nun dritten Fassung gelingt, die älteren Filme in dem einen oder anderen Punkt zu übertreffen. Sonst wäre doch die gigantische Anstrengung, die es braucht, um einen Film zu drehen, vergebens.
Das Kino International ist an diesem Abend weder richtig geheizt noch ganz voll. Das ist aber nicht der Grund, weshalb «Journal d’une femme de chambre» weit unter den Erwartungen bleibt. Der Film zeigt in keinem Moment, worum es überhaupt geht. Selbst die Kulisse ist unsorgfältig gemacht. Die Berlinale 2015 stellte als einen ihrer inhaltlichen Schwerpunkte den sexuellen Missbrauch in den Mittelpunkt. Man kann den Film von Benoit Jacquot auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Allerdings zeigt sich dann, dass das Thema Missbrauch in der neusten Fassung vollkommen von Nebenhandlungen verschüttet wird. So steht man dann nach Mitternacht im Nieselregen einsam am Alexanderplatz, und fragt sich, wo die Berlinale geblieben ist, die tollen Filme, die Stimmung, die Aufregung.
Themenfokus
Es geht an einem Festival nie einfach nur um die Filme. Das Atmosphärische darum herum, die Summe der Begegnungen zwischen Menschen aus dem Publikum, Filmschaffenden und Presseleuten entscheidet am Ende darüber, in welcher Stimmungslage man sich in Kino setzt. Einen Tiefpunkt in dieser Richtung leistete sich der Regisseur Mitchell Lichtenstein. Sein Film «Angelica» beeindruckt und unterhält das Publikums bestens. Es geht um die Sexualität einer Ehefrau im viktorianischen Zeitalter. Bei seinem Auftritt vor dem Publikum wirkt der Regisseur allerdings demotiviert und gelangweilt. Er scheint «Angelica» vor allem gedreht zu haben, um seiner Laufbahn ein weiteres Werk anzufügen. So wenig Engagement für eine Sache dämpft die Begeisterung des Festivalbesuchers.
Dabei ist das Thema «Missbrauch» durchaus dazu geeignet, Filme um einen spannenden Schwerpunkt zu ordnen. Gerade auch wenn man den Fokus etwas ausweitet auf die Frage von erzwungenen oder frei gewählten Rollen in der Gesellschaft und die Suche nach der sexuellen Identität. Um solche Themen kreisen an der 65. Berlinale in der Tat sehenswerte Filme. So etwa «I am Micheal» von Justin Kelly. Ein Schwulenaktivist wendet sich dem fundamentalistischen Christentum zu und konvertiert damit sozusagen zur Heterosexualität. Justin Kelly überzeugt mit seinem Film vor allem deshalb, weil er kein Urteil darüber fällt, welche Rolle im Leben des Protagonisten die richtige ist.
Die Glücktreffer
Auch ein Spion lebt verschiedene Identitäten. Spannend wird es, wenn ein junger Mensch Spion wider Willen wird. Dies ist der Inhalt der neuen Fernsehserie «Deutschland 83». Die Handlung lehnt sich ein Stück weit an die erfolgreiche US-Serie «The Americans» an. Sie findet aber im Spannungsfeld BRD und DDR viel Nahrung für ihren Inhalt. Die ersten beiden Folgen sind ein echter Thriller. Der Besucher vergisst am Beginn der Vorstellung, die Kinokarte wegzustecken und findet sie am Ende zerknüllt in seiner Hand wieder, dermassen fesselt «Deutschland 83». So ist man dann endlich in der Berlinale angekommen, begeistert, aufgewühlt und gespannt auf die Fortsetzung. Selbst, wenn man Pech hat, trübt das die Stimmung nicht weiter. Die letzte Karte für den neuen Film von Margarethe von Trotta «Die abhandene Welt» wird einem vor der Nase von einer Dame weggeschnappt, die sich vorgedrängt hat. Die Festivalbesucherin hinter einem schimpft und meint dann: «Früher war der Ton hier einfach freundlicher.» Vielleicht. Oder auch nicht. Berlin bleibt Berlin. Das kann man auch als Warnung verstehen.
Doch an Mut soll es nicht fehlen. Man wählt auch mal Filme aus, von denen niemand spricht, und die keine Vorschusslorbeeren bekommen haben. So hebt man zuweilen verborgende Schätze. Beispielsweise im Fall eines Filmes, der 35.000 Euro gekostet hat, und den der junge Musiker und Regisseur Moritz Krämer in vier Monaten entwickelt hat. «Bube», so der Filmtitel, beginnt etwas langatmig, berührt aber auf eindringliche Weise. Im Film geht es um den Stolz eines wehrlosen Bauern in der tiefen Provinz. Und damit auch um den Behauptungswillen eines abgeschiedenen Landstrichs gegenüber den grossen Metropolen.
Wahre Schicksale
Das Gefälle zwischen den Metropolen und dem abgelegenen Hinterland bildet auch im Wettbewerbsfilm «Vergine giurata» den Hintergrund. Zwei Schwestern fliehen aus den albanischen Bergen in die Grossstadt Mailand. Im Mittelpunkt dieser wahren Geschichte steht die Ältere, die ein Mann geworden ist, um der rigide eingegrenzten Frauenrolle in der archaischen Welt Albaniens zu entgehen. Diesen Weg lässt die Tradition der Menschen in den Bergen offen. Doch sie ist nicht glücklich als Mann. In Mailand lösen sich ihre Fesseln. Aus dieser Figur macht die Italienerin Alba Rohrwacher ein Glanzstück des Schauspiels. Sie ist von der Jury dafür nicht ausgezeichnet worden. Das mag an der einen oder anderen Schwäche im Film liegen, der von der Inszenierung und der Kamera her sein hohes Niveau nicht durchgehend hält.
Immerhin zwitschern inzwischen die Spatzen in den Hinterhöfen. Die Filmbilder vertreiben zusammen mit der Februarsonne die Berliner Winterdepression. Da machte es auch gar nichts mehr aus, dass die nachgespielten Szenen in der Doku-Fiction «Härte» schwarz-weiss gedreht sind, zumal der Regisseur Rosa von Praunheim heisst. Mit Rosa, seinem Vornamen, spielt auch er mit seiner geschlechtlichen Identität. In seinem Film thematisiert er den sexuellen Missbrauch eines kleinen Jungen durch seine Mutter, sprengt damit natürlich alle Klischees. Der Junge wird als Mann zum Karateweltmeister und brutalem Zuhälter. Lange Therapien haben ihn später zu einem gesellschafts- und beziehungsfähigen Menschen gemacht. So steht er mit Rosa und seiner Freundin auf der Bühne, blickt ins Publikum und irgendwie zurück in ein sehr berlinisches Leben. Zum Glück gibt es die Berlinale. Sie war 2015 ein ganz solider Jahrgang. Auf das Spitzenjahr hoffen wir im Februar 2016.