Lautlose Explosionen

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Amir Reza Koohestani & Mehr Theatre Group: Iwanow
Wo: Theater Spektakel, Werft
Wann: 23.08.2014 bis 25.08.2014
Bereiche: Theater, Theater Spektakel 2014

Theater Spektakel

Kulturkritik ist Partner des Theater Spektakels 2014. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Carmen Beyer: geboren 1986 in Berlin-Brandenburg, derzeit Studentin im Masterstudiengang «Kulturpublizistik» an der Zürcher Hochschule der Künste.

Die Kritik

Lektorat: Esther Becker.

Von Carmen Beyer, 9.9.2014

«Hohle Worte, hohle Menschen», sinniert Iwanow am Beginn. Es ist eine Klage, die auf den Punkt zu bringen scheint, wie es in den Augen von Amir Reza Koohestani und seiner Mehr Theatre Group um die iranische Gesellschaft steht. Sie blicken mit ihrer Adaption von Anton Tschechows Milieustudie «Iwanow» auf die iranische Seele und stellen dieser ein düsteres Zeugnis aus.

Lähmung auf der Bühne

Doch dafür braucht der Zuschauer Geduld, denn die zweieinhalbstündige Inszenierung ist geprägt von einer ruhigen, fast statischen Atmosphäre. Das Bühnenbild ist minimalistisch gehalten und kommt ohne grossen inszenatorischen Schnickschnack aus. Stattdessen bildet den Bühnenmittelpunkt eine meterlange Couch, die erst im zweiten Teil des Abends durch ein ähnlich ausladendes Doppelbett getauscht wird. Darauf lungert Iwanow, der nicht minder träge Protagonist: Nachlässig bekleidet, verwuscheltes Haar und mit der gleichgültigen Bewegungsfreude eines Faultiers auf Beruhigungsmitteln, lauscht er in seinen Kopfhörer beständig auf ein Englischlernprogramm, das Ausdruck einer stillen Hoffnung auf Flucht ist, zu der es aber nie kommen wird.

Nein, dies ist kein Held, der gegen seine Geldnot, die verdorbenen Kräfte in seiner Umgebung oder gar gesellschaftliche Missstände tapfer ankämpfen könnte. Vielmehr scheint er allem lethargisch ausgeliefert: Seine Frau unheilbar an Krebs erkrankt, Schulden bei den ebenso reichen wie unbarmherzigen Gläubigern, die Zuneigung der jungen Sascha zu ihm, die er jedoch nicht erwidern kann oder will. Stattdessen hadert er still mit seinem Schicksal, bis er daran zerbricht. Allerdings nicht mit einer grossen Explosion, die etwas bewirken könnte, sondern als laues Windchen, das nicht einmal Mitleid ins Publikum weht.

Überflüssige Menschen statt Helden

Es ist diese gelähmte Verzweiflung, die den iranischen Regisseur besonders reizte, das russische Drama von 1889 zu inszenieren. Wie Tschechow zeigt auch er ‹überflüssige Menschen› (synonym für ‹Iwanows›). Helden gibt es keine in seinem Stück. Seine Figuren folgen nur ihren eigenen Überlebensstrategien, manövrieren irgendwie durch die auferlegten Gesetze, um sich dabei immer mehr in ihnen zu verhängen. Es sind Angehörige einer Gesellschaftsklasse, die äusserlich den Schein wahrt, auf korrektes Äusseres setzt, aber moralisch verrottet erscheint, wenn sie lästernd Fleischspiesse auf dem Bett einer Sterbenden herrichten oder sich ignorant weigern Iwanow aus seiner finanziellen Schieflage zu helfen.

Zensiert und doch gehört?

In seiner Adaption des russischen Klassikers versteht es Koohestani, zum Teil geschickt versteckt, die Probleme des heutigen Irans abzubilden: Jugendabwanderung, wirtschaftlicher Missstand, andauernde Isolation des Landes, mangelnde Meinungsfreiheit. Um das zum Ausdruck zu bringen, versetzte er das Stück in den heutigen Iran, reduzierte die Dialoge auf ihre wichtigsten Aussagen und übersetzte sie in Umgangssprache. Er folgt damit anderen Theatermachern im zensurbestimmten Iran, die sich auf der Suche nach neuen narrativen Strategien häufig Klassikeradaptionen bedienen, um auch ausserhalb der Underground und Off-Theaterszene agieren zu können.

Doch das Stück klagt nicht nur an, sondern zeigt vorsichtig und leise – wie es die gesamte Inszenierung ist – auch einen Ausweg, wenn Sascha, die jüngste und einzig emanzipierte Figur zu Iwanow spricht: «Du kommunizierst dich nicht, teilst dich nicht mit […]. Schlucke es nicht einfach herunter. Handle!». Das Stück weckt die Hoffnung gehört zu werden in seinen lautlosen Explosionen und vielleicht Widerhall zu produzieren, der aus der Lähmung erwachen lässt. Dafür lohnt sich die Geduld.

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