Abgründe hinter Barockfassade

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Milo Rau / IIPM: The Civil Wars
Wo: Theater Spektakel, Rote Fabrik Aktionshalle
Wann: 27.08.2014 bis 31.08.2014
Bereiche: Theater, Theater Spektakel 2014

Theater Spektakel

Kulturkritik ist Partner des Theater Spektakels 2014. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Tabea Buri: Ethnologin, Jahrgang 1987

Die Kritik

Lektorat: Esther Becker.

Von Tabea Buri, 5.9.2014

In der kahlen Halle der Roten Fabrik steht eine goldene, üppig geschmückte Bühnenkulisse: Nackte Engelknaben schweben über dem roten Samtvorhang und vergoldete Statuen halten Kronleuchter über ihrem Haupt, um die Installation zu beleuchten. Im Hintergrund plätschert Orchestermusik. Kann das der Beginn eines Theaters von Milo Rau sein? Der Berner Regisseur ist bekannt für unzimperliche Auseinandersetzung mit Gewalt und hat sich schon lange von der klassischen Form des Theaters verabschiedet. Stattdessen bringt er Gerichtsvollzüge mit offenem Ausgang auf die Bühne (Moskauer Prozesse, Zürcher Prozesse) und dreht Filme über den Genozid in Ruanda (Hate Radio). Der barocke Kitsch will hierzu nicht passen. Und doch ist er zentral für die Aussage von Raus neuster Produktion „Civil Wars“.

Miniaturen Europas

Die goldene Bühne wird zum Anfang des Abends gedreht und offenbart auf ihrer Rückseite ein kleines Wohnzimmer, in der die intimen Geschichten ganz normaler Menschen lokalisiert werden. Es sind drei Schauspieler und eine Schauspielerin aus Raus Gruppe IIPM (International Institute of Political Murder), die auf Flämisch und Französisch von ihren eigenen Kindheitserinnerungen in Europa erzählen. Dass Rau die Persönlichkeiten seiner Darsteller zum vordergründigen Thema ihres Auftritts macht, ist ein theatertechnischer Kniff, den die Truppe mit grösster Präzision meistert. Vor allem aber liegt in diesem Kniff der tragische Kern des Abends.

Abwechselnd erzählen alle vier von Einsamkeit, von Unsicherheit und vor allem – in jeweils anderer Form – von der Abwesenheit einer zärtlichen Vaterfigur. Hinter der Barockfassade öffnen sich ganz normale familiäre Abgründe. Es entstehen vier kleine Miniaturen des Lebens, die stellvertretend für die junge Generation Europas stehen. Eines Europas, das nicht nur die Barockmusik und die klassische Theaterkunst erfunden hat, sondern das in den letzten Monaten erkennen musste, dass es auch islamistische Extremisten hervorbringt. Das bezeugen Aufnahmen von Exekutionen in Syrien, auf denen die Milizionäre Flämisch oder britisches Englisch sprechen.

Kinder ihrer Zeit

Was treibt junge Männer dazu, den islamistischen Propaganda-Videos im Netz folgen, um im Mittleren Osten für den Dschihad und gegen Europa zu kämpfen? Um dieser Frage nachzugehen, analysiert Rau nicht die Psychologie der kämpfenden Männer, sondern legt den Finger auf den Kontext ihrer Kindheit in Europa. Ohne viel Pathos gelingt es ihm damit, die Tragik des Krieges unerträglich eng mit dem Publikum zu verknüpfen: Diese europäischen Dschihadisten sind Kinder ihrer Zeit, genau so wie die brillanten Schauspieler auf der Bühne der Roten Fabrik. Es sind Kinder derselben krankenden Gesellschaft.

Wie durch ein Mikroskop

Die vier Menschen auf der Bühne erzählen von der psychischen Erkrankung des Vaters, vom Streit der Eltern in der Nacht, von Konflikten im Gotteshaus, aber auch vom Leben als Schauspieler, so etwa von einer kuriosen Begegnung mit Jean-Luc Godard oder von der Rolle als Baum. Zur Illustration schieben sie auf dem Sofatisch Objekte ihrer Erinnerung in den Fokus einer kleinen Videokamera, deren Aufnahmen gross über die Wohnzimmerbühne projiziert werden: Ein Brief, ein Foto der Eltern, ein Stadtplan. Es sind Zeugnisse der ganz persönlichen Geschichten, die schlussendlich in ihrer Summe die Geschichte Europas ergeben. Durch diesen leisen, mikroskopischen Blick ermöglicht Rau die Sicht auf das Grosse: Auf ein Europa, in dem nicht alles so golden glänzt wie die barocke Fassade.

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