Häppchen im Taktrausch

Die Veranstaltung
Was: Theater in allen Räumen
Wo: Theater der Künste
Wann: 17.01.2014 bis 18.01.2014
Bereiche: Performance, Tanz, Theater
Die Autorin
Carmen Beyer: geboren 1986 in Berlin-Brandenburg, derzeit Studentin im Masterstudiengang «Kulturpublizistik» an der Zürcher Hochschule der Künste.
Die Kritik
Lektorat: Esther Becker.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).
Von Carmen Beyer, 22.1.2014
Eine fiebrige Atmosphäre liegt in der Luft. Das Foyer ist rappelvoll, dicht drängelt sich alles aneinander, Stau an der Kasse. Ein Stockwerk höher ist das Treiben bereits in voller Bewegung: «Theater in allen Räumen» unter diesem Namen öffnete das Gebäude an der Gessnerallee bereits zum 18. Mal die Türen und Fenster für das zweitägige Theaterfestival der Zürcher Hochschule der Künste. Neben Werkschau und offener Werkstatt bedeutet das immer auch eine grosse, verspielte Gaudi, die schon zur alljährlichen Tradition geworden ist – und dass ist gut so.
Überall liegen Stücke
117 StudentInnen, 80 Produktionen, zwei Tage, insgesamt 13 Stunden. Diese ausufernden Facts klingen nach Marathon. Und das bestätigt sich, sobald einem der zweiteilige Veranstaltungsplan am Eingang mit auf den Weg gegeben wird: Auf beidseitig bedrucktem A3-Papier reiht sich in Schriftgrösse Zwölf eine Produktion an die andere. Den vollen Stunden untergeordnet, finden sich Klein- und Kleinstvorstellungen im 15-, 30- oder 45-Minutentakt und verlangen vom Besucher gleich zu Beginn einen starken Entscheidungswillen. «Manifest der Einsamkeit», «Durst (verdammt)» oder doch «Urlaub fürs Gehirn»? Die schiere Fülle an Produktionen verwandelt das Gebäude in einen Ameisenhaufen. Die Studenten flitzen von einem Gang in den nächsten, schieben sich an den Wartenden vorbei, verschwinden mit rotem Kopf in den Garderoben und kommen nach gefühlten Sekunden mit neuem Kostüm wieder heraus. Kaum ist eine Vorführung beendet, wird umgebaut, verschoben, verwandelt. Im Lift rauscht mit jeder Fahrt eine audiovisuelle Installation hinab. In der Toilette werden mit jeder Spülung Papierboote auf Reisen geschickt. Überall ist Taktrausch. Alles wird bespielt. Wirklich alles.
Tobender Stau in der Werkstatt
Dass hier kein noch so ungewöhnlicher Ort unbespielt gelassen wird, liegt im Konzept: «Theater in allen Räumen» will die Öffnung und den Austausch nach aussen und untereinander. So bereiteten sich Studierende der Richtungen Schauspiel, Regie, Dramaturgie, Theaterpädagogik und Szenografie wochenlang auf das Ereignis vor und stellen gemeinsam ein Mammut-Programm aus unterschiedlichsten Produktionen auf die Beine. Wo sonst unterm Semester die grossen Fenster und vielen Gucklöcher der ehemaligen Stallanlage eher verdeckt und geschlossen bleiben (der teilweise intimen Seminararbeit zuliebe), öffnet sich an diesen zwei Tagen jeder Winkel zu einer Werkschau der etwas anderen Art. Und das Angebot wird so gut aufgenommen, dass das Haus rappelvoll ist und seine Gänge und Treppen häufig blockiert sind. Immer wieder kommt es zum unvermeidlichen Stillstand und Anstehen. Angeregt wird Gesehenes weiter erzählt und diskutiert, werden Küsschen und Umarmungen verteilt. Die eine Hälfte kennt sich, die andere lernt sich gerade kennen. Viele der Anwesenden sind oder waren selbst Studenten an der ZHdK. Zuweilen wird man das Gefühl nicht los, der Szenerie eines Absolvententreffens beizuwohnen; einem Wiedersehen mit guten Bekannten – oder solche die es noch werden können. Auch das scheint zum Konzept zu gehören: Wenn sich beim Anstehen die fiebrige Vergnügtheit hochschaukelt, finden ganz automatisch Austausch und Öffnung statt. Sowohl nach aussen, als auch nach innen.
Wildente und Kopfstand
Es herrscht eine allgegenwärtige Aufregung, die einen von Stück zu Häppchen schiebt. Selten überschreitet eine Vorführung die Einstundenmarke, viele sind tatsächlich nur viertel- oder halbstündige Snacks und erwecken den Anschein einer Übungsanlage. Zum Beispiel, wenn im Stimmprojekt «Cellist von Sarajevo» sechs Darsteller Textversatzstücke in verschiedenen Körperhaltungen wiedergeben. Sie sprechen im Kopfstand, beim Robben über den Boden, schichten sich übereinander und sind doch bis in den hintersten Winkel hörbar. Auch wenn der Spannungsbogen bereits vor der halben Stunde erschlafft, ist das eindrucksvoll. Stimmausbildung heisst nicht nur gut artikuliert oder betont zu sprechen, sondern vor allem zu entdecken, welche Dynamik die Stimme selbst in unmöglichen Körperhaltungen besitzt. Unter den zahlreichen Produktionen finden sich auch einige Abschlussprojekte. Beispielsweise Henrik Ibsens «Die Wildente (2)», eine Inszenierung, die bereits im Dezember 2013 Premiere feierte. Auf 45 Minuten kondensiert sie die Geschichte einer Familie, deren Glück ein abruptes Ende nimmt, sobald Lüge durch scheinbare Wahrheit ersetzt wird. «Dem Menschen seine Lebenslüge zu nehmen, ist ihm sein Glück zu nehmen», legte Ibsen einer Figur das ernüchternde Fazit in den Mund. Zwar bleibt diese Erkenntnis in der aufgeführten Produktion nur angedeutet, doch besticht es mit dem Einfall, die Spieler auf der Bühne mit Ton arbeiten zu lassen. Sie verwenden die Masse in ihren herrlich überzogenen Darstellungen; bearbeiten, deformieren und nutzen sie als Projektionsfläche für das immer nur Angedeutete.
Unfertig genau richtig
Manche der gezeigten Produktionen sind kurzweilig, während sich andere geradezu festbeissen. Doch sie alle verbindet eine spürbare, ansteckende Lust und Neugierde, Möglichkeiten auszuprobieren, zu spielen, zu erproben. Theater – so kommt der Gedanke – ist mehr als Unterhaltung und darf sich auch den Freiraum nehmen, etwas weniger zu sein. Sich zu den Bildern, die unsere Gesellschaft hervorbringt, ins Verhältnis zu setzen: das ist es, was Theater kann und soll. Es zerstückelt und formt diese in seinem eigenen spielerischen Charakter neu – auch mal ohne den Anspruch eines fertigen Produkts. «Theater in allen Räumen», so scheint es, zeigt nicht nur ein bis in die letzten Winkel bespieltes Hochschulgebäude; es positioniert sich vielmehr am ambivalenten Punkt des Offenen und Verschlossenen, des Fertigen und Unfertigen, und es tut das mit einem angenehmen Werkstattcharakter.