Die Beiläufigkeit des Ausnahmezustandes

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Teresa Margolles
Wo: Migros Museum für Gegenwartskunst
Wann: 23.05.2014 bis 17.08.2014
Bereiche: Bildende Kunst, Gesellschaft

Der Autor

Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Migros-Kulturprozent (siehe Unabhängigkeit).

Von Tilman Hoffer, 26.5.2014

Ciudad Juárez, die mexikanische Stadt direkt an der Grenze zu den USA und Heimat der Künstlerin Teresa Margolles, galt bereits in alten Western oder in den Songs von Johnny Cash als gefährlich. Gleichwohl sehnt man sich heute wahrscheinlich die fast noch unschuldige Desperado-Romantik jener Tage zurück. Als Hauptumschlagplatz des Drogenschmuggels war Juárez nicht nur besonders hart vom wahnwitzigen «war on drugs» betroffen, der insgesamt 70’000 Tote forderte. Mit Einführung der Nordamerikanischen Freihandelszone begann eine Art Industrialisierung auf Speed. US-Firmen zogen Fabriken hoch, Arbeiter strömten in die Stadt; innerhalb weniger Jahre schnellte die Bevölkerung von 100’000 auf 1,5 Millionen. Bars und Nachtclubs machten auf, um die von ihren Familien getrennte Armee von Arbeitskräften bei Laune zu halten. Sicherheitskräfte und Polizei erwiesen sich als chronisch überfordert, was den Kontrast zum nördlichen Nachbarn teilweise nur noch vergrössert hat (El Paso, Texas, nur eine zehnminütige Autofahrt von Juárez entfernt, ist infolge seiner Polizeiaufrüstung inzwischen die sicherste Stadt der USA).

Obwohl die Sicherheitslage sich allgemein leicht zu bessern scheint, kam innerhalb der letzten beide Jahrzehnte ein neuartiges Phänomen auf: Junge Frauen, die meisten von ihnen Arbeiterinnen, Studentinnen und Schülerinnen, verschwinden in grosser Zahl; wenn man sie findet, sind sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt und oftmals enthauptet. Verbindungen zur organisierten Bandenkriminalität mag es geben oder nicht, auf jeden Fall liefern sie nicht den Schlüssel zur Aufklärung. Die Bezeichnung «Feminizid» wurde für diese Verbrechen eingeführt, denn das ist in der Tat alles, was sie gemeinsam haben: Die Taten sind ausserordentlich brutal, und die Mordopfer sind ausschliesslich Frauen.

Sinnlose Barbarei

Die Motive der anhaltenden Gewaltserie, die neben Mexiko noch andere südamerikanische Staaten betrifft, liegen weiterhin im Dunkeln. So wie das Wehklagen oder das Geschrei unterhalb der Ebene der Sprache liegen, so sinken auch die Spuren auf einem verstümmelten Körper unter die Ebene der Zeichen. Es sind keine Botschaften über irgendetwas, sondern Hinweise auf eine buchstäblich sinnlose Barbarei. Man kennt Gesellschaften, in denen eine besonders stumpfsinnige Form von Machismo vorherrscht und wo dementsprechend die Vergewaltigung noch mehr oder weniger als Kavaliersdelikt gilt. Doch die masslose Grausamkeit der Feminizide entzieht sich einer kulturalistischen Erklärung. Ebenso irrt man sich, wenn man solche Ausbrüche bestialisch nennt. Die Bestie, das Tier, nach gängiger Auffassung nur an Selbsterhaltung und Fortpflanzung interessiert, hat überhaupt keinen Sinn für die sadistische Quälerei, für blinden Hass. Denn darum geht es: ein Maximum an Leiden zu verursachen, die Frau so umfassend wie möglich zu demütigen, sie noch über den physischen Tod hinaus als Person zu vernichten. Diese Art der Kriminalität ist zutiefst irrational, doch ebenso wenig lässt sie sich nach klassischen Mustern auf äussere (Verrohung der Gesellschaft) oder innere Faktoren (Triebstruktur der Täter) reduzieren. Sie ist eine perverse Begleiterscheinung einer alles in allem ziemlich aus den Fugen geratenen Gemengelage.

Normalität des Monströsen

Ein früheres Werk von Teresa Margolles, «Border lines» betitelt, zeigte in einer Collage verschiedene Nahtstellen auf menschlichen Körpern, die von chirurgischen Operationen herrühren. Margolles war zu dieser Zeit noch Mitglied der Künstlergruppe Semefo (Servicio Médico Forense), und ihr Stil noch härter, konfrontativer. Doch politische Eindeutigkeit und Radikalität der Bildsprache hat im Bereich der Kunst stets etwas Zweischneidiges. Die Gefahr besteht darin, in plumpe Gewaltpornographie abzugleiten, oder, noch schlimmer, in einen rührseligen Betroffenheitskitsch, der durch seine Aufdringlichkeit die ästhetische Dimension des Kunstwerks zu ersticken droht.

La búsqueda, ihr nun in Zürich ausgestelltes Werk, entgeht diesen beiden Gefahren mühelos. Margolles wählt bewusst eine Perspektive, die nicht das Monströse der Gewaltverbrechen in den Vordergrund stellt, sondern im Gegenteil deren schleichendes Einsickern in die Normalität (im Durchschnitt werden in Mexiko 30 junge Frauen pro Woche entführt). In einem abgedunkelten Raum trifft der Betrachter auf acht Glasscheiben in der Grösse von normalen Schaufenstern. Sie stammen aus Juárez und sind übersät mit Vermisstenanzeigen. Die Mädchen und jungen Frauen sehen sich, wenn man ehrlich ist, extrem ähnlich, und die Fotos sind klein und von schlechter Qualität. Obwohl Name, Alter und persönliche Merkmale genannt werden, bleiben die mutmasslichen Opfer letztlich anonym. Auch der praktische Nutzen der Steckbriefe scheint eher gering zu sein, zumal in einer Millionenstadt. Auf Erklärungen oder Kommentare wird gänzlich verzichtet. Dieser Minimalismus, den man nicht einmal dokumentarisch nennen kann (denn es handelt sich ja um ready mades und damit gerade nicht um Dokumentation, also Bearbeitung des Materials), ist keine unreflektierte Ästhetisierung. Die Hilflosigkeit und auch die Alltäglichkeit der Vermisstenanzeigen auf Glasscheiben, kombiniert mit der befremdlichen Loslösung aus ihrem gewöhnlichen Umfeld und ihrer Überführung in die aseptischen Museumshallen, zielt unverkennbar auf einen starken emotionalen Effekt. Es ist jedoch zugleich die Weigerung, sich der schrillen Logik der Steigerung und Übertreibung zu unterwerfen, die den sinnlosen Morden selbst inhärent ist.

Der eigentlich dominierende Aspekt der Installation ist allerdings kein visueller, sondern ein akustischer. Die tosende Soundkulisse, in die der Raum getaucht ist, besteht aus Geräuschen eines Güterzuges, der täglich von Juárez nach El Paso fährt. Motoren, die hinter den schwarzen Rahmen der Glasfenster befestigt sind, bewirken deren Klirren und Scheppern und simulieren damit den Eisenbahnverkehr. Dieser Lärm legt einerseits eine gereizte Unruhe über das Ganze. Er trägt darum wesentlich zur Authentizität der Atmosphäre der Industriestadt bei. Zum anderen erzeugt er jedoch auch den Eindruck von grosser Profanität. Die Züge fahren eben weiter. Die Mischung aus Intensivierung und Banalisierung macht Teresa Margolles’ Werk schliesslich zu dem, als was man es wohl verstehen muss: zu einer paradoxen Metapher für die Beiläufigkeit des Ausnahmezustandes.

Weiterlesen: