Das Virtuelle in der Vergangenheit

Die Veranstaltung
Was: Signal to Noise
Wo: Tojo Theater Bern
Wann: 09.04.2014 bis 12.04.2014
Bereiche: Digitale Medien, Musik, Performance, Theater
Die Autorin
Tabea Buri: Ethnologin, Jahrgang 1987
Die Kritik
Lektorat: Gabriele Spiller.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: pulp.noir (siehe Unabhängigkeit).
Von Tabea Buri, 10.4.2014
Wir haben nicht nur ein Leben. Wir haben zwei, vielleicht auch drei, vier. Denn neben der so genannten realen Welt, bewegen wir uns gleichzeitig in virtuellen Parallel-Universen, in denen wir neue Identitäten erschaffen. Dabei verschwindet die Grenze zwischen der analogen und der digitalen Sphäre mehr und mehr – so die Aussage des Künstlerkollektivs pulp.noir.
Darsteller und ihre Doppelgänger
Diese Mehrschichtigkeit unseres Alltags passt perfekt zum Interesse der mehrfach prämierte Schweizer Gruppe: Seit ihrer Gründung vor zehn Jahren beschäftigt sie sich mit den «Absurditäten des Lebens» und bewegt sich dabei mühelos zwischen Musik, Theater und multimedialer Kunst. In einer Koproduktion mit dem Fabriktheater Rote Fabrik Zürich entstand dieses Jahr das Programm «Signal to Noise», das sich keiner Sparte definitiv zuordnen will und deshalb als «Theatersimulation» betitelt wird. Musiker und Schauspieler nehmen gleich viel Platz auf der Bühne ein und bewegen sich auf ihr mit der selben Präsenz. Noch mehr Aufmerksamkeit als die realen Darsteller aber ziehen ihre virtuellen Doppelgänger auf sich: Auf halbtransparenten Leinwänden, erscheinen sie in Übergrösse und mit 3D-Brillen plastisch wahrnehmbar. Sie wechseln laufend ihr Aussehen, verwandeln sich in Affen oder Leichen, tragen dabei aber fast immer eine kleine Maske, die ihre Verkleidung in Erinnerung ruft. Gesteuert von den analogen Menschen auf der Bühne stellen die projizierten Figuren die eigentlichen Hauptpersonen des Abends dar. Die einzige Gestalt, die nicht auf den Leinwänden vervielfacht wird, ist das Skelett, das während des ganzen Abends still von der Decke des Theaters hängt.
Die Zukunft der Vergangenheit
Die Performance lebt von der Collage scheinbar unzusammenhängender Sequenzen, die fliessend ineinander über gehen. Wie beim online Surfen bleibt der Fokus nie lange an einer Stelle; bald wird eine neue Geschichte angeschnitten, bald zieht ein weiteres Bild unsere Aufmerksamkeit auf sich. Während diese Spiegelung des Alltags langweilen könnte, schafft es pulp.noir mit einem gekonnten Dreh, eine humorvolle und spannende Perspektive auf das virtuelle Dasein zu eröffnen – die Perspektive der 1980er Jahre. Angelehnt an Orwells dystopische Zukunftsvision begeben sich die Künstler in die Vergangenheit, um sich von dort aus das Jahr 2014 vorzustellen. Mit Schulterpolster und Karottenjeans bewegen sich die Darsteller unaufgeregt in der Zukunft der Vergangenheit und begeben sich dadurch in die virtuellen Sphären unserer Gegenwart.
Foucault auf der Bühne
Auch wenn pulp.noir die heutige digitalisierte Welt thematisiert, zeigt der Abend mehr noch deren Vorgeschichte, denn durchgehendes Thema ist die Entwicklung der Medien. Von Höhlenmalerei über Notenschrift und Stenographie bis hin zu Polaroidkameras rast die Geschichte auf den Leinwänden vorbei. Ebenso wird die Veränderung der Wissensproduktion aufgezeigt: Im Dschungel werden Köpfe vermessen, im Labor DNA-Strukturen fotografiert und im Studio Verhöre aufgezeichnet. Wenn die gleiche Figur erst die Wettervorhersagen präsentiert, aus einer Glaskugel die Zukunft prophezeit und mit der selben Ernsthaftigkeit ärztliche Diagnosen stellt, dann steht die Frage nach Wissen und Autorität im Raum. Wie können wir bei der Vielzahl von medialen Kanälen zwischen wahr und falsch unterscheiden? Wer bestimmt, welches Wissen richtig ist? Foucault scheint hier unsichtbar mit auf der Bühne zu stehen.
Alles ist aufgezeichnet
In einer der stärksten Sequenzen wird die ständige Aufzeichnung unseres Tuns thematisiert. Was auch immer die Darsteller versuchen – ihr bisheriges Leben kann nicht aus der medialen Sphäre gelöscht werden: Sie fressen Papier, verwischen Fussspuren, schreddern Dokumente; es wird gerissen, gelogen, gelöscht. Da alles nichts nützt, treten bald protestierende Figuren auf, die Gesichter versteckt hinter Guy Fawkes-Masken, Pussy Riot-Strümpfen und Arafat-Schälen. Während daraus ein Krieg im Schnelldurchlauf entflammt, erscheint auf dem hintersten Screen bereits die entsprechende Zeitungsmitteilung – der simultanen Dokumentation kann nicht entwichen werden. Entsprechend endet das Stück mit dem beschleunigten Zurückspulen des ganzen Abends.
Elektorock und Experimentalmusik
Neben dem visuellen Spektakel und den zahlreichen Anspielungen auf Mythen, Politik und Populärkultur gerät die musikalische Dimension etwas in den Hintergrund – dabei sind alle Darsteller ständig um das präzise Zusammenspiel von Instrumenten, Synthesizer und Geräuschkulisse bemüht. So wird gleichzeitig zur mehrschichtigen thematischen Auseinandersetzung ein Live-Konzert von süffigem Elektrorock und abstrakter Experimentalmusik geboten. pulp.noir beweist damit, dass sich die schier unendlichen Möglichkeiten der digitalen Medienwelt durch hohe Konzentration produktiv nutzen lassen.