Durch die Linse einer seekranken Kamera

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Shipwreck von Morgan Knibbe
Wo: Internationale Kurzfilmtage Winterthur
Wann: 07.11.2014
Bereiche: Film+Fotografie, Internationale Kurzfilmtage Winterthur 2014

Kurzfilmtage Winterthur

Kulturkritik ist Partner der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur 2014. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Julia Stephan: (*1986) Seit 2006 Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Praktika bei der BAZ und der Aargauer Zeitung. Redaktionelle Mitarbeit beim Zürcher Germanistikmagazin Denkbilder und dem Blog \"Kritik4U\" des Theaters Gessnerallee. Teilzeitproduzentin bei der Aargauer Zeitung.

Die Kritik

Lektorat: Philipp Spillmann.

Von Julia Stephan, 14.11.2014

Dieser Film reisst einem den Boden unter den Füssen weg. Nicht nur wegen seiner Thematik, die ausreichen würde, um ins Straucheln zu geraten. Auch mit seinen filmischen Mitteln lässt er uns haltlos werden. Im Dok-Film „Shipwreck“ von Morgan Knibbe schaukelt die Linse einer seekranken Kamera über ein Schiffswrack, das sich an der Küste der italienischen Insel Lampedusa in den Himmel türmt. Manchmal verliert die Kamera an den aufgerissenen Schiffswänden dieses gestrandeten Seeungeheuers ihren Weitblick, und es wird dunkel. Dann hören wir nur noch den Wind durch die Ritzen der Wracks zischen, Meeresrauschen und Seemöwengeschrei. Plötzlich macht die  Kamera einen Schwenk nach hinten, und wir werden vom hellblauen Himmel geblendet. So orientierungslos muss man sich fühlen, wenn man irgendwo im Meer herumtreibt. So nimmt man die Welt wahr, kurz, bevor man ertrinkt.

 
Als am 3. Oktober 2013 ein Boot mit 500 eritreischen Flüchtlingen an der Küste der italienischen Insel Lampedusa sank, ertranken über 360 Menschen. Der niederländische Filmemacher Morgan Knibbe hat mit der geschockten Weltgemeinschaft die Einsargung der Opfer mit der Kamera begleitet. Sein Film gewann im internationalen Kurzfilmwettbewerb des Filmfestivals Locarno den Kleinen Leoparden in Silber. 
 Geflüstertes Trauma
Knibbe hat einen jungen Eritreer zum heimlichen Helden seines Films auserkoren. Mit gebeugtem Rücken watet dieser schwankend durch die Trümmer am Strand und hält sich an den Schiffstauen fest, als fehle ihm immer noch ein fester Halt. Eine Trainingshose schlottert um seine mageren Beine. Er tastet nach den Schiffsteilen wie ein unbeteiligter Beobachter; aber er ist ein direkt Betroffener. Flüsternd erzählt er die Geschichte seiner Flucht und von seinem Freund Abraham, den er im Meer zurücklassen musste, weil ihm die Kräfte versagten. Dass seine Stimme aus dem Off spricht, während er stumm zwischen den Trümmern steht, ist ein Verfremdungseffekt, der das Gefühl der Abspaltung, das die traumatische Erfahrung bei diesem jungen Mann zurückgelassen haben muss, visuell umsetzt. 
 
Knibbe hat diese Momente stiller Trauer mit der lauten Betriebsamkeit am Hafen von Lampedusa kontrastiert. Dort heben italienische Hafenarbeiter die Toten in einfachen Holzsärgen mit Kränen auf LKW’s. Die schwankende Kamera fährt über die Gesichter italienischer Polizisten, die ihre Betroffenheit hinter spiegelnden Sonnenbrillen verbergen. Journalisten und Einheimische werfen scheue Seitenblicke auf die lautstark trauernden Eritreer, als schämten sie sich ihres eigenen Voyeurismus. 
 
Auch den Zuschauer seines Films lässt Knibbe diese Scham spüren. Etwa, wenn er die Rücken von Kamerateams filmt, die ihre Linsen auf die trauernden Menschen gerichtet halten, die wir lediglich schreien hören, aber nicht sehen. Zu einer skurrilen Begegnung zwischen erster und dritter Welt kommt es, als die nackten, wohl proportionierten Beine einer Journalistin im Etuikleid vor den in sich zusammengesunkenen Eritreerinnen vorbei stöckeln. 
Anteilnahme und Distanz
Nach dem Unglück wurde viel geredet. Politiker versprachen Besserung, die EU rief eine Expertengruppe ins Leben, deren Vorschläge Unglücke wie dieses präventiv verhindern sollten. Knibbe hat alle politischen Störgeräusche herausgefiltert, verrät uns auch nichts über die persönlichen Schicksale der Flüchtlinge, sondern konzentriert sich auf die reinen Emotionen, auf die Trauer der Überlebenden und Blicke der betroffenen Weltgemeinschaft. Ein genialer Schachzug, denn genau in diesen Blicken und Gesten der europäischen Hilfskräfte, die Anteilnahme und Distanz zugleich ausdrücken, tritt Europas gespaltenes Verhältnis zu seiner eigenen Flüchtlingspolitik so deutlich hervor, wie selten.

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