Wenn der Humor sich selber ans Bein pinkelt

Die Veranstaltung
Was: Anna Mateur & The Beuys: Protokoll einer Disko
Wo: Im Hochhaus, Limmatplatz
Wann: 21.11.2014 bis 22.11.2014
Bereich: Theater
Die Autorin
Fabienne Schmuki: Jahrgang 1983. Absolventin des Masterstudiengangs Kulturvermittlung, «publizieren & vermitteln» an der ZHdK. Co-Geschäftsführung eines Schweizer Independent Musikvertriebs; Promotion & Kommunikation. Freelancerin für diverse Print-/Onlinemedien.
Die Kritik
Lektorat: Carmen Beyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben vom Migros-Kulturprozent (siehe Unabhängigkeit).
Von Fabienne Schmuki, 23.11.2014
Zweifellos: Alles an Anna Mateur ist eine Wucht. Ihre Stimme ist mächtig, ihr Körper, den sie enthemmt in Szene setzt, ist voluminös, und im Takt mit ihrem unbeholfenen Tanz wippt die Mähne aus toupiertem, langem Haar. Ihr Paillettenstirnband ist ebenso geschmacklos wie die gelben Strümpfe, die kurz unter den Knien in ihre fleischigen Waden einschneiden. Ihre Band «The Beuys», bestehend aus dem Gitarristen David Sick und dem Jazz-Cellisten Stephan Braun, könnte sie zwischen zwei Fingern zerbröseln. Und das grau melierte Publikum im Migros-Hochhaus am Limmatplatz isst Anna Mateur zum Frühstück.
Wenn man die Party alleine feiern muss
Anna Mateur passt etwa so gut zur Bühne Im Hochhaus wie in Kleidergrösse 32. Schon ihre Präsenz sprengt den bieder anmutenden Saal. Sie ist von Kopf bis Fuss unangepasst, und der emotionale Graben zwischen Bühne und Publikum wächst im Laufe der gut einstündigen Performance immer weiter. Anna Mateurs Unangepasstheit wird zur blossen Provokation.
Dabei hätte die Jazzsängerin, Texterin, Schauspielerin und Radiokolumnistin aus Dresden Talent und Power für zwei. Ob Jazz, Disco, Rock oder Rap, jeder Stil scheint ihr zu entsprechen. Jeden Hit hat sie einverleibt, jeder Melodie verleiht sie ihre eigene Note. Ob «Mad World» von Tears For Fears, «Daddy Cool» von Boney M oder «Killing In The Name Of» von Rage Against The Machine: Anna Mateur feiert jede Party mit zuckenden Moves, angestachelt von ihrem kratzenden Paillettenstirnband. Sie muss die Tanzfläche mit niemandem teilen. Und feiert die Party so ganz alleine.
Das beklemmende Gefühl zwischen den Brüsten
Humor ist eine delikate Angelegenheit. Was die einen zum Schreien komisch finden, wirkt auf andere obszön. So wähnte man sich bald im Letzigrund anstatt im Publikum des Migros-Hochhaus: Die Südkurve konnte sich kaum halten vor lachen. Und der Rest schwieg. Und so pinkelte Anna Mateurs Humor sich immer wieder selber ans Bein.
Aber Alberto, der tanzte. Nicht freiwillig, wohlverstanden. Aber irgendwann platzte Anna Mateur der offenherzige Kragen und sie suchte sich ein Opfer. Dies wirkte wie ein kleines Attentat auf das Zürcher Publikum: Anna Mateur suchte einen Tänzer. Und so geschah es, dass sich der gutmütige Alberto bald auf der Bühne wiederfand, wo er an seinem Arm geschüttelt und an ihren Busen gedrückt wurde, dass es einem Angst und Bange wurde. Das Gefühl, das sich im Publikum breitmachte, war wohl ähnlich beklemmend, wie es für Alberto zwischen Mateurs Brüsten sein musste.
Grau melierte DDR-Kinder in Zürich
Der Titel des aktuellen Programms von Anna Mateur, «Protokoll einer Disco», stammt von DDR-Gruppenbüchern. Wie Mateur im Interview mit dem Züritipp erzählte, «mussten Kinder darin ihre Erlebnisse protokollieren, wie Klassenfahrten oder eben der Disko-Besuch. Die wurden mit viel Lustlosigkeit beschrieben». Das Zürcher Publikum war an dem Abend im Hochhaus den DDR-Kindern bestimmt ähnlicher, als es Anna Mateur lieb war.
Es half auch nicht, dass der rote Faden fehlte. Mateur reihte Klassiker an Hits und empfand immer mehr Gefallen daran, ihr Publikum zu schockieren und erschrecken. Erst nach dem rund einstündigen Programm, das gemäss Plan hätte 90 Minuten dauern sollen, versöhnte sie sich mit ihrer Zugabe wieder mit ihrem Publikum: Im «Gewinner-Medley» musizierte sie sich mit The Beuys quer durch «Simply The Best», «My Way», «The Winner Takes It All», «We Are The Champions», und der Trick funktionierte. Das Gemeinschaftsgefühl war wiederhergestellt, der Graben schrumpfte, das Publikum war erleichtert, die kraftvolle Mateur vorübergehend gesättigt. Doch der Appetit kommt bekanntlich wieder, spätestens wenn das Frühstück ruft.