Im Archiv der Ängste

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Stephen G. Rhodes The Law of the Unknown Neighbor: Inferno Romanticized
Wo: Migros Museum für Gegenwartskunst
Wann: 09.02.2013 bis 21.02.2013
Bereiche: Bildende Kunst, Gesellschaft

Der Autor

Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.

Die Kritik

Lektorat: Patricia Schmidt.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben vom Migros-Kulturprozent (siehe Unabhängigkeit).

Von Tilman Hoffer, 12.2.2013

Keiner wusste, was genau Stephen G. Rhodes dort eigentlich inmitten seines eigenen Kunstwerks veranstaltete. Mit einer Art Viehtreiberstock schaltet er Glühbirnen und Ventilatoren ein und bringt Luftballons zum Platzen. Eine Armada von Gummischlangen überzieht den Boden und die Bücherregale, die am Rand aufgebaut sind. Unter den Ventilatorflügeln sind Projektoren angebracht, die nun schnell wechselnde Loop-Filmsequenzen auf die Oberflächen der Umgebung werfen. Man sieht viele Schlangen und viele Blitze. Der Raum ist aufgeteilt in drei durch Spitalvorhänge abgetrennte Ellipsen; in zwei von ihnen bildet eine Puppe das Zentrum, in der mittleren ein Stehpult. An diesem Stehpult deklamiert ein alter bärtiger Mann in Patientenkleidung immer wieder die gleiche Formel – in einer Sprache, die vermutlich nicht existiert.

Und mitten in dieser durchaus bedrohlichen Kulisse Stephen G. Rhodes immer noch mit dem Viehtreiberstock. Performance? Rituelle Weihung? Das Werk scheint jedenfalls in Betrieb genommen. Schliesslich nimmt er den armen Alten am Arm, führt ihn behutsam weg und überlässt die Installation sich selbst. Die Stimme hallt weiter aus den Lautsprechern, die Bilder rotieren, aber sie tun das auch ohne das Subjekt, von dem sie ausgingen. Der Alte ist weg. Er stand, das sollte man vielleicht wissen, für den Kunstforscher und Kulturwissenschaftler Aby Warburg.

Der Fall Warburg

Aby Warburg war ein umfassend gebildeter Kosmopolit und brillanter Wissenschaftler; er entwickelte neue kunsthistorische Methoden, beschäftigte sich mit der Geschichte der Astrologie, den Mythen fremder Völker und der Kunst der Renaissance. Er sagte von sich, er sei im Herzen Florentiner; vor allem aber war er nach dem Ersten Weltkrieg mit den Nerven am Ende. Er litt unter Phobien und Wahnvorstellungen. Die moderne Zivilisation im Allgemeinen und die politischen Verhältnisse Europas im Besonderen fand er widerlich und unerträglich. 1921 wies man ihn ins Sanatorium Bellevue in der Schweiz ein, nachdem er mit Selbstmord und Mord an seiner Familie gedroht hatte. Gegenüber dem Pflegepersonal verhielt er sich teilweise offen aggressiv, teilweise apathisch. Ausserdem entwickelte er immer obskurere Hygieneobsessionen. Er starrte stundenlang auf kreisende Ventilatoren und begann mit Schmetterlingen zu sprechen. Seine Ärzte verabreichten ihm hohe Dosen Opium.

Was ging in ihm vor, worüber dachte der gelehrte Mann nach? Wer weiss. Allem Anschein nach war er durch seine früheren Feldstudien schwer traumatisiert. Zumindest schienen ihn die Erinnerungen an Rituale der Hopi-Indianer nicht loszulassen, die er knapp 30 Jahre zuvor im Südwesten Amerikas beobachtet hatte. Eine geistige Erkrankung kann sich auf verschiedenen Wegen schöpferisch Bahn brechen; wir haben kein Problem damit, uns einen verrückten Musiker, Maler oder Diktator vorzustellen. Sehr selten allerdings findet sie ihr Ventil, wie im Falle Warburgs, in Form einer ausgefeilten kulturanthropologischen Abhandlung. Seinen heute berühmten Vortrag «Das Schlangenritual. Ein Reisebericht» bekamen zunächst nur die Patienten und Ärzte des Sanatoriums zu hören. Doch seine Analyse muss die Standards des damaligen intellektuellen Diskurses mehr als nur erfüllt haben, denn sie zog schnell grosses Interesse auf sich, unter anderem das des Philosophen Ernst Cassirer (der Warburg noch in der Klinik besuchte). Kurz darauf galt er als geheilt.

In Warburgs Gehirn konvergierten offensichtlich zwei Arten der Welterfahrung: ein logisches, lineares Denken, das sich in Sätzen und abstrakten Begriffen artikuliert; und ein assoziatives, zirkuläres, sprunghaftes Empfinden von Symbolen, Bildern, Stimmungen. Was entstand aus dieser eigentlich kaum möglichen Symbiose, was sah Warburg? Es gibt keinen Weg, das gänzlich zu rekonstruieren. Man muss es erfinden. Und das ist es im Wesentlichen, was Stephen G. Rhodes getan hat.

Kunst als Häutung

Natürlich ist Warburg nur ein Ausgangspunkt, den Rhodes mit einem Netz von Verweisen und Anspielungen umkleidet, das kreuz und quer durch die Kunst- und Kulturgeschichte geht. Allein über die symbolische Bedeutung der Schlange in alten Mythen und Ritualen, in der Psychoanalyse oder in Beziehung zur Skulptur als Kunstform selbst könnte man ganze Doktorarbeiten schreiben (und zugegebenermassen klingen Rhodes’ eigene Verlautbarungen manchmal so, als habe er eine solche Doktorarbeit schon in der Schublade). Doch zugleich ist es auch der Versuch einer höchst individuellen Übertragung: Rhodes schreckt nicht davor zurück, sich selbst als Subjekt wie auch als Objekt ins Spiel zu bringen, etwa als Figur in einzelnen Filmsequenzen. Es ist ganz und gar der Versuch, sich die Strukturen des Traumas zu eigen zu machen, eine ungewohnte Ordnung über die Dinge der Natur und der Geschichte und über die Selbstbeschreibung zu legen. Doch dieser Versuch ist immer auch mit einem Gestus der tongue-in-cheek verknüpft. Rhodes ist zu sehr Kind des ausgehenden 20. Jahrhunderts, um nicht zu wissen, dass unter jeder Oberfläche nur eine neue Oberfläche wartet, dass die (Selbst-)Häutung nicht etwas latent Verborgenes hervorbringt, sondern schlichtweg etwas Neues.

Insofern mag die Kenntnis des Umfelds hilfreich sein, um Rhodes bei seinem Projekt zu folgen; doch letztlich entzieht sich die Wirkung seines Werks der Kontrolle. Die Assoziationen des Betrachters müssen die Leerstellen füllen.

Unter Augenzwang

«Unter Augenzwang entstand der Traum». Dieser Vers von Gottfried Benn – wie fast alle Verse von Gottfried Benn – ist gleichzeitig lakonisch und ungemein pathetisch, gleichzeitig zynisch distanzierend und beschwörend. Er drückt darum ziemlich genau die merkwürdige Doppelcodierung aus, die auch die Installation von Stephen G. Rhodes kennzeichnet. Der theatralische Raum, in dem man sich befindet, könnte das nächtliche Sanatorium sein, überlagert mit bedrohlichem Sound und unheimlichen Bildern (dem «Augenzwang» Warburgs). Doch es könnte genausogut auch ein moderner Nachtclub sein, in dem eine dekadente Party gefeiert wird (ein Nachtclub mit Gummischlangen auf dem Boden, aber wieso nicht). Das Ganze verliert viel von seinem Schrecken, weil es in keinem Moment verhehlt, wie sehr es gemacht ist, wie sehr wir zu den Abgründen des Traumas nicht mehr unschuldig, sondern nur noch auf dem Umweg über einen wuchtigen Apparat von Zeichen und Inszenierungstechniken vordringen können (auch in dieser Hinsicht ganz ähnlich wie ein moderner Nachtclub).

Archiv der Ängste

In einem Text zur Ausstellung spricht Rhodes davon, «das Archiv exotischer Ängste zu verwalten». Exotische Ängste – Fremdes, Unerklärliches, Unheimliches, das man aber gleichwohl wie in der bürokratischen Institution par excellence, dem Archiv, nach klar definierten Regeln ordnen, sammeln, arrangieren und untersuchen kann. Dieses Paradoxon charakterisiert nicht nur Warburg, den rationalen Wahnsinnigen. Es charakterisiert auch das Werk Stephen G. Rhodes’. Denn tatsächlich variiert Rhodes ein Thema, das die Moderne nun seit Jahrhunderten durchzieht: den Riss zwischen Ich und Welt. Nur dass es ein Ich ist, das sich selbst nicht zu fassen bekommt und – und das ist der Unterschied zur klassischen Moderne – die ganze Zeit weiss, dass es sich selbst nicht zu fassen bekommt. Das Spektakel ist durchaus selbstironisch, man grinst bisweilen unwillkürlich.

Ist Rhodes damit quasi der Tarantino des Bildungsbürgertums? Ist sein von Schlangen, Indianermystik und Gewaltfantasien durchzogenes Werk die intellektuelle Variante der Medizinmann-Szene aus «Natural Born Killers»? Bei Rhodes’ Vorliebe für Popkultur-Zitate ist das gar nicht so weit hergeholt. E. H. Gombrich, der Verfasser der ersten grossen Warburg-Biographie, warnte: «Das Inferno, in das er hinabstieg, sollte niemals romantisiert werden.» Wenn Rhodes mit seinem Werk «The Law of the Unknown Neighbor: Inferno Romanticized» versucht, Warburgs Geistesleben mit pompösem dramaturgischen Aufwand in den Mittelpunkt zu stellen, dann scheisst er auf diese Warnung (was das angeht sehr amerikanisch). Doch muss auch beachtet werden, dass er dies trotz allem mit einer unverkennbaren Ehrfurcht vor der dunklen, verborgenen Tiefenschicht der Psyche, der Symbolik, des Rituals tut, vielleicht sogar vor der Magie (was das angeht wiederum sehr alteuropäisch).

Rhodes ist ein Profi, der mit allen postmodernen Wassern gewaschen ist. Er weiss sehr genau, was er tut und wie er es tut. Doch sein Ehrgeiz geht darüber hinaus, lediglich ein multimediales Feuerwerk der Diskurse abzubrennen. Er ist auf der Suche nach Erlebnisformen, nach Organisationsweisen der Erfahrung, von denen noch niemand sagen kann, zu was sie führen könnten. Zu einem neuen Umgang mit der Angst? Jedenfalls sollte man Rhodes im Auge behalten. Nicht unbedingt, weil er wahnsinnig ist; sondern weil er ein ideenreicher Künstler ist, und sein Werk ein Erlebnis.

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