Observatio VI – Platons Airbus/Verborgene Universen

Die Veranstaltung
Was: Platons Airbus/Verborgene Universen
Wo: Zürcher Hochschule der Künste
Wann: 18.12.2012
Bereiche: Bildende Kunst, Digitale Medien, Observer in Residence Ruth Schweikert
Observer in Residence
Die Schriftstellerin Ruth Schweikert besucht Veranstaltungen der ZHdK um schriftlich darüber zu reflektieren. Ihre Eindrücke als Observer-in-Residence sollen zur Diskussion beitragen und dabei disziplinenübergreifende Aspekte berücksichtigen.
Die Autorin
Ruth Schweikert: Geboren 1964, Schriftstellerin und Theaterautorin sowie Dozentin an der Hochschule der Künste Bern, lebt in Zürich.
Von Ruth Schweikert, 23.1.2013
«Ich bin mir nicht ganz sicher, ist Sprache das Schiff oder das Meer, auf dem das Schiff fährt.»
«Ich komme so bisschen ins Schwitzen, weil ich nicht weiss, haben wir zu viel oder zu wenig Material – mir kommt es auf Folgendes an…»
Solche Sätze sind charakteristisch für Nils Röller; wobei das Eingeständnis der eigenen zeitweiligen Unsicherheit nichts Kokettes hat, dafür weiss er schlicht zu viel, und meistens weiss er auch, wo er hin will mit seinen Gedanken, was ihm erlaubt, sie kunstvoll mäandrierend zu entwickeln. Denn Nils Röller doziert nicht, er denkt (mit leiser, konzentrierter Stimme) laut nach über Phänomene, die ihn beschäftigen, mit denen er selber vielleicht nicht ganz zu Rande kommt, und daran lässt er die Studierenden teilhaben, die stets aufgefordert sind, mitzudiskutieren, ihre Einwände und Eindrücke einzubringen – wovon sie durchaus Gebrauch machen. Nils spricht frei, ohne Manuskript oder Notizen; einzig Bilder zum Zeigen hat er auf seinem Laptop dabei – viele Bilder von Kunstwerken, die ihn inspirieren, und auf die er zurückgreift, wenn er den Boden zu verlieren glaubt. Seit kurzem verteilt er jeweils pro Sitzung ein Handout, damit die Studierenden nicht nur ihn als Gedankenakrobaten bestaunen, sondern Quellentexte nachlesen und Informationen überprüfen, einer Sache fundierter nachgehen können.
Grundfragen
Gerne stellt er (in seiner Vorlesung Platons Airbus) «einfache» Grundfragen; etwa «wie kommt es, dass nicht mehr Leute ausrasten, die Beherrschung verlieren, wenn sie in einem Airbus sitzen, über viele Stunde hinweg einander und der Situation ausgeliefert, der Tatsache des In-der-Luft-Seins, existentiell angewiesen auf das Funktionieren der Technik und die Kompetenz der Mannschaft?» Jede Ordnung ist menschengemacht; Schritt für Schritt entwickelt Nils Röller aus der bedrängenden Enge des Airbus den Imaginations- und Simulationsraum der Kunst, geht ihren Ursprüngen nach (das rhythmische Schleifen unserer Ahnen an einem Knochen als Akt, der Ruhe schafft), um Sekunden später in der Moderne zu landen und neue Businessmodelle zu entwickeln wie man z.B: das Bedürfnis nach Bewegungsspielraum auf Langstreckenflügen berücksichtigen und damit Geld verdienen könnte, auch mit Passagieren, die sich kein Erstklasseticket leisten können oder wollen, aber bereit wären, einen Aufpreis zu bezahlen für zwei Stunden in einem Ruhesessel, der von mehreren Interessierten abwechslungsweise gemietet werden könnte.
Er habe, sagt Nils Röller später im Gespräch, als junger Dozent damit begonnen, Professoren zu imitieren, sich damit aber stets unwohl gefühlt. Mittlerweile fühlt er sich offensichtlich wohl bei dem, was er tut und wie er es tut – was zum Glück für alle Studierenden keinesfalls dazu führt, dass er etwa bequem geworden wäre, eher im Gegenteil.
«Wir sind nicht verpflichtet, wie Wissenschaftler, zu glätten», sagt Nils Röller einmal, und genau das ist einer seiner Untersuchungsgegenstände, das Verhältnis von Kunst und (exakter) Wissenschaft wie zum Beispiel Physik; deshalb steht auch ein Besuch im CERN mit den Studierenden auf dem Programm (wie gerne wäre ich mitgereist, wie notwendig erscheinen mir gerade solche Ausflüge, denke ich etwa an die Aufnahmeprüfungen für den Studiengang Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern; wenn da eine oder eine kommt und sagt, ich weiss nicht, soll ich nicht doch lieber Physik studieren, raten wir immer zu Physik oder Chemie oder Medizin; schreiben kann der oder die Betreffende danach immer noch, wenn es wirklich sein soll, und wie viel mehr Wissen wird er oder sie einbringen in seine/ihre Literatur).
Vermittlungsarbeit
Die Kunst, so meint Nils in der Kritik zu einer Fotografie von Thomas Struth: «Stellarator Wendelstein» (eine Versuchsanlage des Max-Planck-Instituts zur Stromerzeugung mittels Kernfusion), die ein wildes Durcheinander von Kabeln und Apparaturen zeigt, solle sich nicht damit zufrieden geben (wie o.g. Fotografie), das Nichtverstehen zu inszenieren, sondern müsse und könne Vermittlungsarbeit leisten, indem sie eigene Bilder für Phänomene wie etwa den Magnetismus erfinde; am Beispiel einer Holzschnitt-Version des «Schreis» von Edward Munch – das ganze Bild besteht aus kreisförmigen «Feldern», die schreiende Figur und ihre Umgebung, die sich ineinander auflösen, nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden sind – lässt sich das sehr schön zeigen; wobei Munch natürlich nicht die Feldtheorie vermitteln wollte, sondern einem inneren Empfinden – ein Schrei, der alles durchdringt, Natur und Mensch – bildhaften Ausdruck verliehen hat; was wiederum die Frage aufwirft, die später an diesem Tag in der Vorlesung «Platons Airbus» diskutiert wird; haben Künstlerinnen und Künstler etwa ein spezifisches Sensorium, eine genauere Selbst- und Weltwahrnehmung, sind sie, wie Mussolinianhänger Ezra Pound schrieb, gar «die Antennen der Gattung»?
Eher ist es wohl so, dass sie, wenn sie ihre Arbeit sorgfältig machen, ihre Wahrnehmung verfeinern, sodass sie als SchriftstellerInnen zum Beispiel, «die Normalsprache zum Stottern bringen, oder zum Zittern, […] das ist […] die Fremdsprache in der Muttersprache.» (Deleuze und Guattari, Was ist Philosophie).
Lukrez-Studien
Für das Seminar «Verborgene Universen», das Nils Röller gemeinsam mit Christian Fürholz konzipiert hat und durchführt, war die Aufgabe, sich mit dem sechsbändigen Werk De rerum natura (Über die Natur der Dinge) von Lukrez zu beschäftigen, und zwar in dreifacher Weise; zunächst lesend und so, die Weltvorstellung des Lukrez (einigermassen) nachvollziehend, sich Wissen aneignend; später produzierten die Studierenden je ein Fanzine, also eine haptisch-visuelle künstlerische Umsetzung des Gelesenen; drittens galt es, je eine Audiodatei herzustellen, auch im Hinblick auf eine einstündige Radiosendung bei Radio LoRa, die etwas vom Seminarinhalt für ein breiteres Publikum vermitteln soll. (Mittlerweile wurde sie produziert und ist hier nachzuhören.)
Auch das ist bezeichnend für die Art und Weise, wie Nils Röller seine Arbeit an der ZHdK versteht: Aneignung, Umsetzung, Vermittlung über die Hochschulgrenzen hinaus – auch wenn die ersten Ergebnisse noch bescheiden sind. Ich beneide die Studierenden beinahe ein wenig; mit wie viel Verve können sie sich in ihre Aufgaben stürzen, das Lukrezsche Werk hält so viel Denk- und Arbeitsmaterial bereit; bietet soviel «Fremdsprache», d.h. sprachliche Bilder, die sich nicht sofort erschliessen; ein grossartiges Objekt, um sich daran «abzuarbeiten» – und dies tun die Studierenden mit erstaunlicher inhaltlicher und methodischer Breite. Einer ruft seine ganze Verwandt- und Bekanntschaft an, um Menschen unterschiedlicher Herkunft und von jung bis alt zu ihren Vorstellungen von Seele zu befragen; eine andere faltet aus Transparentpapier eine komplexe Landkarte, die teilweise beschriftet ist, sodass sich je nach «Entfaltungszustand» verschiedene Lesarten eines Lukrezschen Satzes zeigen; eine dritte unterlegt ihren Lukrez-Text mit der Tonspur eines Handyfilms, den ein Tourist am 26. Dezember 2006 aufgenommen hat, als er und seine Familie vor dem Tsunami flohen, noch ohne zu realisieren, was genau sich da vor ihren Augen abspielte.
Die Audioarbeiten stellten für die meisten Studierenden eine grössere Herausforderung dar; auch weil manche zum ersten Mal eine Tonspur gestalteten; das Gespräch in der Gruppe über die kurzen Beiträge war denn auch eher verhalten; niemand sollte entmutigt, vielmehr das spürbare Engagement der Studierenden genutzt werden für den nächsten wichtigen Schritt, die Überarbeitung. Erstaunlich dennoch die wenig ausgebildete Fähigkeit, das eigene Tun zu reflektieren bzw. (gemeinsam) eine Sprache zu entwickeln, die es dem Einzelnen erlauben würde, von der Gruppensituation stärker zu profitieren, daraus sowohl technisches Know How wie auch inhaltliche Anregungen für die weitere Arbeit zu gewinnen.
Kunst und Wissenschaft
Dennoch: Theorie und Praxis – hier scheint mir der Transfer speziell fruchtbar, wo es nicht vor allem um Kunsttheorie geht, sondern um – eben – den Wissenstransfer vom Medium der Wissenschaft ins Medium der Kunst und umgekehrt; womöglich, denke ich Tage später, hat beides tatsächlich denselben Ursprung; erwächst beides aus demselben Impuls, wörtlich, dem Transfer des Pulsschlags als physisches Ordnungsprinzip in die Aussenwelt; das von Nils Röller erwähnte rhythmische Schleifen eines Steins oder Knochens durch unsere Vorfahren – dass sich daraus Kunst und Technik, Form und Funktion, Schönheit und Nützlichkeit, (Selbst- bzw. Welt-)Wahrnehmung, (Selbst- und Welt-)Beherrschung (mit allem, was daran problematisch ist) und (Selbst- bzw. Welt-)Erkenntnis entwickeln konnten, scheint mir plötzlich plausibel – und ergo auch, dass sich aus der Art und Weise dieses Unterrichtens ein fruchtbarer Dialog entspinnen kann zwischen Kunst und Wissenschaft.