Leere Augen in japanischer Ekstase

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Ms Berserker ATTTTTACKS!! Electro*Shock*Luv*Luv*Luv Shout!!!!! – Miss Revolutionary Idol Berserker
Wo: Theater Spektakel, Lido
Wann: 16.08.2013 bis 17.08.2013
Bereiche: Theater, Theater Spektakel 2013

Theater Spektakel

Kulturkritik ist Partner des Theater Spektakels 2013. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Antonia Steger: Jahrgang 1988, studiert Germanistik und Kulturanalyse im Master, arbeitet daneben im Ausstellungsbereich (Kommunikation/Redaktion).

Die Kritik

Lektorat: Carmen Beyer.

Von Antonia Steger, 17.8.2013

Die Überforderung beginnt mit einer Warnung: Ziehen Sie sich Pelerinen an, drücken Sie sich Ohropax in den Schädel. Machen Sie so viele Fotos, Filme wie Sie möchten, verbreiten Sie diese überall, machen Sie alles mit uns. Wir übernehmen jedoch keinerlei Verantwortung. Und wenn Sie den Raum verlassen möchten, machen Sie sich bemerkbar, das Personal hilft Ihnen dabei.

Die Performance «Ms Berserker ATTTTTACKS!! Electro*Shock*Luv*Luv*Luv Shout!!!!!» übertrifft die Verrücktheit ihres Titels noch bei weitem. Rund zwanzig Japaner in Schuluniformen und Fantasiekostümen verwandeln die Bühne in eine bizarre Wasserrutsche, die sich schwindelerregend durch die japanische Popkultur schleudert und ohrenbetäubend ebenso wie knallbunt in der grellsten Übertreibung endet. «Berserker» ist dabei durchgehendes Motto: Hysterisch bis halb aggressiv verwandeln sich die Darsteller in schmerzlose Pop-Kämpfer.

Bizarre Übergriffe

Wasser wird kübelweise ins Publikum gekippt, aufgeweichtes Brot landet in den Gesichtern der ersten Reihe. Zwischen den dargebrachten Popsongs drücken sich leicht bekleidete Darsteller durch die Zuschauer, animieren sie zum Bällewerfen, landen wild knutschend auf verdutzten Schweizer Knien. Das Publikum ist überfordert, kennt die Kultur nicht, die hier überdreht wird, weiss nicht, wie es reagieren soll. Da nützen die spärlichen Anweisungen leider fast nichts, die in unverständlichem Englisch geliefert werden und sich neben dem tosenden Pop-Kitsch kaum mehr durch die Ohropax durchquetschen können.

Und doch steckt die Energie an. Es ist faszinierend, Japaner beim Durchdrehen zu beobachten und ihnen verwundert dabei zu helfen. So werden nach der zweiten Wasserdusche auch gern mal Hartplastikbälle mit Schwung zurückgeworfen und Papierfetzen in den Haaren der Nachbarin verstreut. Man kennt das japanische Lächeln und dessen maskenhafte Höflichkeit. Höflichkeit bedeutet immer Distanz zum Mitmenschen, doch diese Performance baut jede Distanz ab. Jetzt greifen sie zu, jetzt greifen sie ein! Es ist fertig mit der Höflichkeit!

Unendliche Entfernung der Roboter

Doch noch viel faszinierender ist, dass die Darsteller zwar den Abstand abbauen, ihren Anstand aber vollkommen bewahren. Deutlich wird dies, wenn die mädchen- und jungenhaften Gestalten aus zwanzig Zentimeter Entfernung geradeaus in deine Augen blicken und trotz dieser unerträglichen Nähe unendlich weit entfernt sind. Das Lächeln ist maskenhaft, der Blick streng choreographiert. Das Mädchen nimmt die Augen ihres Gegenübers nicht wahr, sondern denkt an den nächsten Schritt, den es sekundengenau durchführen muss. Nicht umsonst wird im Programmtext der Vergleich zu nordkoreanischen Masseninszenierungen angetönt: Diese japanische Überwältigung ist nicht im Paradigma des ekstatischen Künstlers, sondern in der Präzision der Roboter zu suchen.

Die Unnahbarkeit in der gespielten Ekstase ist das Geniale dieser Performance. Tôco Nikaidô setzt sich darin mit der Otaku-Jugendkultur auseinander, in der mädchenhafte Idole bis zum Exzess bewundert werden, obwohl diese Idole selbst unpersönliche Marketingmaschinen sind und nicht selten ausgenützt werden. Diese Oberflächenkultur verarbeitet die Regisseurin in einen überwältigenden populärkulturellen Übergriff, der im ersten Moment durch ein knallbuntes Spektakel begeistert, beim zweiten Blick jedoch die befremdende Distanz betont, welche durch die leeren Augen der dressierten Mädchen und Jungen entsteht. Dieses Paradox gilt es unter der Pelerine auszuhalten, währenddessen sich halbe Weltmeere unter den Füssen bilden.

Zum Schluss waten die Zuschauer auf Befehl hin selbst auf die Bühne, keiner darf sitzen bleiben. Auf diese Weise selbst ausgestellt, soll dann gefeiert werden – sich selbst, die Welt oder was auch immer. Aber Hauptsache, der Jubel fällt so aus, wie es die Regisseurin vorgesehen hat.

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