Gefangen in der Gegenwart: Joaquim Pinto / E Agora? Lembra-me

Die Veranstaltung
Was: Joaquim Pinto: E Agora? Lembra-me?
Wo: Filmfestival Locarno, Concorso Internazionale
Wann: 08.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013
Filmfestival Locarno
Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Der Autor
Olivier Christe: Geboren 1986 in Basel. Studium der Osteuropäischen Kulturen und der Ethnologie in Basel. Zurzeit im Masterstudiengang publizieren&vermitteln an der ZhdK.
Die Kritik
Lektorat: Sarah Bleuler.
Von Olivier Christe, 14.8.2013
„Zusammen haben wir die Welt bereist, oder, die Welt hat uns vorbeigehen gesehen“.
Dies ist einer der ersten Sätze von „E agora? Lembra-me“. Wie fast alle Sätze, die im Film nicht dem Fernseher oder dem Radio entstammen, wird er von Joaquim Pinto gesprochen. „Zusammen“ meint im obigen Zitat mit Nuno, mit dem er seit vielen Jahren verheiratet ist. Der 1957 in Portugal geborene Joaquim ist sowohl Regisseur wie auch Protagonist des Filmes. Der Fokus auf seine eigene Person hat einen Grund. Bei ihm wurden 1997 HIV und Hepatitis C diagnostiziert. Die Infektion vermutet er weit früher, denn in den USA war ab den 80er Jahren von einer Krankheit die Rede, die Homosexuelle umbringt. Auch er musste in diesen Jahren von vielen Freunden Abschied nehmen. In „E Agora? Lembra-me“, was übersetzt „Und nun? Erinnere mich“ heisst, zeigt er tagebuchähnliche Aufzeichnungen aus dem Jahr 2011, in dem er eine Behandlung mit neuartigen Medikamenten (Boceprevir, Interferon, Ribavirin) zur Bekämpfung von Hepatitis C erhält. Das Gift, das er in Form von Medikamenten in seinen Körper bringt, nimmt grossen Einfluss auf diesen, wie auch auf seine Psyche. Die gravierendste Nebenwirkung beschreibt er als eine Trägheit. Ein Verharren seines Körpers, der nicht mehr automatisch die Signale aus dem Kopf umsetzt. Der Körper hat sich vom Geist gelöst, und jedes Signal muss über den Willen kommuniziert werden. Symptomatisch sagt er „Ich muss wollen um zu wollen“. Die eigenartigste Form dieser Trennung von Körper und Geist zeigt sich beim Atmen. Er schreibt dem Brustkorb, der sich weigert die regelmässige Auf-und-Ab-Bewegung durchzuführen, schliesslich gar einen eigenen Willen zu.
Als Reaktion auf die immense Wirkung, die das Gift in seinem Körper auslöst, wird der Film zu einem fatalistischen Klagelied. Konstante Metapher bleibt dabei die Natur. Das Feuer, dem man sich entgegenstellt, das aber dennoch früher oder später über das Land zieht und die Ernte vernichtet. Die Hunde, die immer wieder ergeben auf dem Rücken liegend zu sehen sind und ihre Unterwürfigkeit ganz offen zur Schau stellen. Die Schnecke, die für die Überquerung von einem Grashalm eine gefühlte Ewigkeit braucht, welche wir ungekürzt mitverfolgen. Die Wespe, die auf dem Fenstersims im Sterben liegt und das menschliche Augenpaar, das sie dabei ruhig und ohne Hilfeleistung beobachtet. Keine Hilfe, weil Hilfe keinen Sinn macht, weil sie stirbt. Joaquims Fatalismus prangert vor allem die künstliche Lebenserhaltung unter grosser Opfergabe an. Jedes Wesen hat ein Ablaufdatum, wie auch die Menschheit ein Ablaufdatum hat, das er jetzt für gekommen sieht. Doch Teil dieses Fatalismus’ ist auch die Akzeptanz des menschlichen Jas zum Leben. Er stellt bei sich selbst die Ausweglosigkeit im Kampf gegen HIV und Hepatitis C fest und sieht sich gleichzeitig in einer neuen Behandlung. Diese unterscheidet sich von der alten nur dadurch, dass jedes Gift, das neu in seinen Körper gelangt, toxischer als sein Vorgänger ist. Der Mensch baut auf Hoffnung und diese führt zum Äussersten. Zum letzten möglichen Mittel.
Seine These belegt er mit einer historischen Untersuchung von Epidemien. Jede Krankheit, so Joaquim, hat eine Zeit und eine Geschichte. Syphilis, die Kolumbus vom neuen Kontinent mitbrachte, die Spanische Grippe 1920, der seine Grosseltern erlagen, die asiatische Grippe 1957, die Nunos Eltern auf dem Gewissen hat. Hepatitis C und HIV, die Krankheiten unserer Zeit. Denn jede Zeit, und dabei zwingt er uns den Satz umzukehren und verdammt die Welt zum Leiden, hat ihre Krankheit.
Während zu Beginn des Films der Eindruck aufkommt, Joaquim sei aufgrund seiner Krankheit zu einem Leben in der Gegenwart verdammt, weitet er das Argument allmählich auf die gesamte Menschheit aus. Wenn man Joaquims Gedanke konsequent weiterverfolgt, braucht es für eine Zukunft wie für eine Vergangenheit ein Verständnis der Gegenwart. Dies aber ist dem Menschen nicht gegeben. Joaquim selbst sieht sich gezwungen, von seinem Glauben an die Wissenschaft abzukommen. Seine Krankheit, auf die er allmählich reduziert ist, zwingt ihn dazu. Während er im Film bewusst den eigenen Glauben an die Wissenschaft unterwandert, bietet ihm Nunos Glaube im biblischen Sinn eine wirkungsmächtige Alternative. Und so gleicht Nuno plötzlich – auch optisch – auffallend Jesus und wird selbst zum Erlöser, indem er Joaquim mit jeweils einem einzigen Wort von seinem wissenschaftlichen Hoffnungsglauben an den Ausgangspunkt zurückzuschmettern vermag. Jeder Kampf ist unnötig. Dies zeigt eindrücklich der wissenschaftliche Exkurs in Mikroskopbildern. Das HI-Virus nistet sich in den Zellen ein. Um das Virus zu vernichten muss auch die Zelle vernichtet werden. Der Kampf gegen das Virus endet in der völligen Zerstörung seines Wirtes. Der Mensch will Gott spielen und opfert sich und andere dabei selbst. Die Opfergabe aber ändert nichts am Ausgang.
Der Film zeichnet ein düsteres Bild unserer Welt. Er stattet die Realität mit einem unerschöpflichen Waffenarsenal aus, das einzig dazu dient dem Leben auf Erden Leid zuzufügen. Gleichzeitig bietet er dagegen ein wirksames Mittel an: der Verzicht auf sämtliche Vorstellungen von Leben in Vergangenheit und Zukunft und dagegen ein radikaler Fokus auf die Gegenwart.
Wie das Jahr 2011, indem sich Joaquim der neuen Behandlung unterzieht, langatmig und voller Durststrecken ist, so ist auch der Film eine grosse Herausforderung. Aufgrund der Länge von 164 Minuten an den Körper, vor allem aber an den Geist. Es ist eine Willensleistung den Film zu Ende zu schauen. Einerseits aufgrund der Länge und Hoffnungslosigkeit, andererseits aufgrund der Schwere, die auf gewissen Bildern lastet. Allen voran die Präparate von Körpern, die der Syphilis erlegen sind. Die Willensleistung wird aber schliesslich vor allem für die Zusammenführung der einzelnen Fragmente nötig. Der Film ist eine Komposition aus Einzelfragmenten, die in einer poetischen Sprache und ohne explizite Aussagen erzählt und mühsam zusammengeführt werden müssen. Die Mühe, die viel Zeit in Anspruch nimmt, führt aber, egal ob man Joaquim in seiner Radikalität zustimmt oder nicht, schliesslich zu dem, was man Katharsis nennt. Aus einem Prozess, der sowohl Körper und Geist bis zum Äussersten fordert, tritt man mit einem Mehrwert hinaus. Das Potenzial dazu ist in diesem Fall gewaltig. Es ist der Stoff, der Menschen macht.