Einer schiesst sich frei

Die Veranstaltung
Was: Freischiessen, Singspiel
Wo: Theater der Künste, Bühne A
Wann: 02.05.2013 bis 03.05.2013
Bereiche: Musik, Theater
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).
Von Christian Felix, 3.5.2013
«Der Freischütz» des Komponisten Carl Maria von Weber ist eine beliebte deutsche Oper aus dem frühen 19. Jahrhundert, der Zeit der Romantik. Es ist fast schon ungezogen, diese Oper mit einem kleinen Ensemble in einem Off-Theater aufzuführen. Denn um eine Opernaufführung und um nichts anderes handelt es bei der Produktion «Freischiessen». Hoppla, sagt man, wenn das nur gut geht!
Waldstück oder Bürodrama?
Doch zunächst zur Handlung. Sie spielt in den mehrfach orchestervertonten Fluren und Wäldern Böhmens. Max ist ein junger Schützenmeister. Er steht davor, Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno, zu heiraten. Dazu muss er vor dem Landesfürsten und dessen versammelter Jagdgesellschaft eine Taube von einem Baum schiessen. Nur hat Max beim dörflichen Schützenfest kläglich versagt und vor der alles entscheiden Jagd ein solches Lampenfieber, dass er sich mit dem Teufel einlässt. Mit dessen Hilfe giesst er verhexte Freikugeln, die immer treffen. Aber der der Leibhaftige lenkt diese Kugel statt auf die Taube auf Agathe. Die Oper hielt ein glückliches Ende bereit. Doch die Aufführung in der Gessnerallee verzichtet vollkommen auf Versöhnlichkeiten.
Falsch. Die Handlung geht anders. Max ist ein kleiner Bürochef. In seinem «Team» arbeiten drei Frauen. Jede ist Agathe und will den Chef heiraten. Dem steht entgegen, dass Max ein wichtiges Geschäft in den Sand gesetzt hat. Entschlossen zieht er aus, um die Scharte mit verstärktem Einsatz auszuwetzen: «Mich rufen Macht und Pflicht von hinnen…!». Das freilich endet in einem «Burn Out». Max wird entlassen, landet auf dem Arbeitsmarkt, den er als Hölle erfährt. In paranoide Angstzustände verstrickt packt Max sein Sturmgewehr und schiesst sich in einem Amoklauf frei. Begleitet vom Lied Den schönen, den schönen grünen Jungfernkranz… töten seine Kugeln die Büro-Agathen.
Musik und Schauspiel
Die Lieder und Sprechszenen erzählen die erste Version der Handlung. Nicht die ganze Oper von Weber, aber viele der beliebten Lieder daraus erklingen. Eine ganz besondere Wirkung entsteht dadurch, dass die Aufführung statt in einem protzigen Opernhaus auf einer kleineren Bühne stattfindet. So nahe kriegt man eine Oper selten zu sehen. Dennoch lassen die Darsteller Tamas Henter (Max), Maria Gerter, Diomari Montoya und Simona Rigling (Agathe) nichts anbrennen. Ihre Stimmen tragen auch dort, wo sie von der Regie (Johannes Müller) gehörig auf der Bühne herumgewirbelt werden, und selbst dann noch, wenn sie rücklings auf einer Sofalehne liegen. Dieser anspruchsvollen Inszenierung folgt die Musik scheinbar spielend. Der Dirigent (Eduardo Strausser) gibt konzentriert und sichtlich erfreut seine Einsätze. Mit dem kleinen Orchester bringt er die Opernmusik in einer spritzigen Interpretation auf die Bühne. So gibt es in der ganzen Aufführung kein «könnte noch mehr…», «hätte man sollen…». Wer klassische Musik mag, sitzt einfach da und geniesst das Singspiel.
Potenzverlust
Es bleibt die Frage, an welcher Version man sich freut. Die Inszenierung baut eine Brücke zwischen dem Schützendrama und der «Business»-Tragödie. Auf der Bühne stehen Büroschränke, Regale, oder auch ein Sof Diese Gegenstände sind verhext und verwandeln sich je nach Bedarf in Felsen, in dichten Wald, in die Wolfschlucht, wo sich der arme Max durch Büro-Hydro-Kulturen schlägt, und der Leibhaftige ihm in Form von daherrollenden Regalen zu Leibe rückt. Diese Bühnengestaltung (Lukas Sander) ist nicht nur wirkungsvoll, sondern mit tragikomischen Elementen gespickt.
Auf der psychologischen Ebene läuft die Oper so oder anders auf dasselbe hinaus. Unschwer erkennt man die phallische Symbolik im Gewehr und im Schuss. Der heiratswillige Schütze oder «Manager» muss vor allen Vorgesetzten (Erbförster und Landesfürst; CFO und CEO) beweisen, dass seine Kugel trifft. Diesem Druck hält er nicht stand. Seine Potenz versagt. Er bekommt seine Agathe nicht, wobei Agathe, «die Gute», für eine glückliche Zukunft steht.
«Freischiessen» ist im Rahmen des Masterstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste entstanden. Die Verwegenheit der Studierenden hat sich gelohnt. Im Gegensatz zum jungen Max ist ihnen mit der Aufführung das Meisterstück bestens geglückt. Die Beteiligten haben ihre Agathe verdient, wofür immer sie auch stehen mag.