Ohnmacht oder die Abhängigkeit von der globalen Vernunft

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Eric Baudelaire: The Ugly One
Wo: Filmfestival Locarno, Concorso Cineasti del presente
Wann: 13.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013

Filmfestival Locarno

Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Der Autor

Olivier Christe: Geboren 1986 in Basel. Studium der Osteuropäischen Kulturen und der Ethnologie in Basel. Zurzeit im Masterstudiengang publizieren&vermitteln an der ZhdK.

Die Kritik

Lektorat: Sarah Bleuler.

Von Olivier Christe, 18.8.2013

Der Film The Ugly One des französischen Regisseurs Eric Baudelaire wurde in Locarno zum ersten Mal gezeigt. Er ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und Masao Adachi, einem japanischen Linksaktivisten und ehemaligen Mitglied der Japanese Red Army. Die beiden zeigen in einer Mischung aus Liebesgeschichte und politischer Erzählung die inneren Kriege von Widerstandskämpfern und mischen dabei Dokumentation und Fiktion. Eine Debatte über Sinn und Zweck des politischen Widerstands führt die Protagonisten des Films dabei zur Handlungsunfähigkeit. Eine Ohnmacht, der sich auch der Betrachter nicht entziehen kann.

Der Film beginnt. Über dunklen, engen Strassen hängen Kabel wie Spinnennetze. Fast unscheinbar die Flagge Palästinas, halb eingerollt. Ein Schild sagt Palästinensisches Gebiet. An einer Hausecke Arafat. Durch die engen Gassen Beiruts gehen Menschen ihren Beschäftigungen und Träumen nach.

A Story told by Masao Adachi heisst es im Vorspann. The Ugly One ist der zweite Film des französischen Regisseurs Eric Baudelaire. Der erste trug den Namen The Anabasis of May and Fusako Shigenobu, Masao Adachi, and 27 Years without Images. Es ist ein Dokumentarfilm über Masao Adachi.

Widerstand ohne Waffen

Adachi ist ein japanischer Regisseur mit Jahrgang 1939. Schon früh sah er das Filmemachen eng mit einer linksaktivistischen Pflicht verbunden. So drehte er im Jahr 1974 gemeinsam mit der palästinensischen Befreiungsorganisation PFLP und der Japanese Red Army (JRA) einen revolutionären Aufklärungsfilm. Als Folge trat er dieser militanten Organisation bei, die 1971 von Japanern im Libanon gegründet wurde und sich für die Rechte der Palästinenser einsetzte. Durch das Attentat auf den heutigen Flughafen Ben Gurion (ehemals Lod) in Tel Aviv im Jahre 1972, bei dem 26 Menschen ums Leben kamen, wurde die Gruppe weltberühmt. Adachi sagt, dass er nie an Operationen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt war und Attentate wie das obige vor seiner Zeit bei der JRA geschahen. Stattdessen arbeitete er an Filmtheorien, die das revolutionäre Potential des Films erkannten und anwenden sollten. Dies war sein Aktivismus. Nach mehreren Haftstrafen im Libanon und in Japan kam er 2003 frei und begann nach 30 Jahren Pause erstmals wieder Filme zu drehen.

Adachi ist im Film The Ugly One der Erzähler im Off. Man bekommt ihn aber während den ganzen 101 Minuten nicht zu Gesicht. Adachi spricht am Anfang des Films über Beirut wie über ein menschliches Wesen und vergleicht das Schicksal der Stadt mit dem des bewaffneten Widerstands. Zentrales Bild in diesem Vergleich sind die Tränen. Er spricht von den Kriegen und sagt, dass Beirut bei jedem der Angriffe geweint hat. So während dem libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, wie auch während dem Libanonkrieg mit Israel von 2006. Und mit ihr hat auch der Widerstand geweint, dem Adachi angehörte. Dann aber wechselt er von den starken Emotionen zum Beschrieb einer eigenartigen Ohnmacht, in der sich die Stadt seit einigen Jahren befindet. Die Stadt, so sagt er, habe nicht aufgehört zu weinen, nur tue sie es seither in Stille.

Ein Mädchen wiegt mehr als 1000 Tote

Mit den stillen Tränen bereitet er das Terrain für die nun folgende Geschichte vor. Es ist die Liebesbeziehung zwischen Lili (Juliette Navis), dem Flüchtling aus Palästina und dem Terroristen Michel (Rabih Mroué). Die beiden bilden den Kern einer kleinen Gruppe, die einen Anschlag plant. Die Zeitebenen verwischen sich, und es ist nicht klar, ob der Anschlag bereits stattgefunden hat, oder ob er noch stattfinden wird. Klimax ist ein Abendessen aller Beteiligten bei Michel und Lili, bei dem sich die Wogen im Gespräch überschlagen. Thema des Gesprächs ist Sinn und Zweck des bewaffneten Widerstands. Dabei wird vor allem die Ratlosigkeit über die um sich greifende Gewalt im syrischen Bürgerkrieg betont. Statt in toten Seelen zu rechnen, wie es dort Regierung und Opposition tun, steht plötzlich der Wert eines Menschenlebens im Zentrum. So verfolgt Lili den ganzen Film hindurch ein totes Mädchen, das Lilis Bombe zum Opfer fiel. Ein Mann, den die Tischrunde mit Doktor anspricht, widerspricht der Tischrunde vehement und pocht lautstark auf die Erhaltung alter Werte und den Kampf gegen das Böse. Dass er immer Doktor genannt wird, unterstreicht die Ratlosigkeit, in der sich alle befinden. Er scheint eine Respektsperson zu sein, auf dessen Meinung man bis anhin zählen konnte. Nun aber ist er immun gegenüber den Moralgedanken, welche die anderen wälzen. Der Gesellschaft bricht der verlässliche Boden weg. Symptomatisch endet die Runde schlagartig in einem Glas Schnaps, mit dem die Diskussion beendet wird. Man ist sich uneinig und die Fronten sind nicht mehr klar. Gut und Böse haben sich vermischt. Dabei wird aber angedeutet, dass sich nicht nur die äusseren Umstände geändert haben, sondern, dass die Auflösung klarer Grenzen auch eine innere Entwicklung der Protagonisten war.

Baudelaires Flucht aus der Krise der Repräsentation

Masao Adachi ist ein Teil der Produktion. Der andere ist Eric Baudelaire. Der Franzose mit Jahrgang 1973 ist Filmemacher und Videokünstler. Damit will er den Betrachter in die Situation bringen, Produktion und Rezeption des Gesehen sowie politische und soziale Konstruktionen zu hinterfragen. Es ist kein Zufall, dass der Film keine abschliessende Antworten gibt, wie der Widerstand gedacht werden soll und stattdessen scheinbare Realitäten nichtig werden lässt. Wenn Realitäten medial dargestellt werden sollen, wird immer wieder das Totschlagargument der objektiven Sichtweite genannt. Entweder, so die Kritiker, ist man zu tief in der Gesellschaft verfangen um die Sache überblicken zu können oder man ist in einer externen Betrachterposition und hat keinen Zugang zu den inneren Mechanismen. Krise der Repräsentation wurde dieses Dilemma in den Sozialwissenschaften ab den späten 70er Jahren genannt. Seither wird in alle Richtungen versucht, diesem Gefängnis zu entkommen. Baudelaire überzeugte deshalb Adachi für eine eigenartige Anlage des Films. Adachi, der aus der Innenperspektive berichten kann, schreibt das Drehbuch. Er zeigt es Baudelaire aber erst unmittelbar vor dem Dreh in Beirut. Dieser kennt lediglich die grobe Struktur des Skripts und den Schauplatz der Eröffnungsszene. Nicht aber die Richtung noch den Ablauf der Erzählung. Dennoch ist er der Regisseur und Adachi betreut den Film mit seinen Kommentaren. Daraus ergibt sich eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion, aus Liebesgeschichte und politischer Erzählung.

Ähnlich wie Paradise Now des palästinensisch-niederländischen Regisseurs Hany Abu-Assad, der den Gedanken zweier zukünftiger Selbstmordattentäter im Westjordanland nachgeht und den inneren Krieg der beiden beschreibt, läuft auch The Ugly One auf die Erkenntnis hinaus, dass niemand weiss, was Sache ist. Das Beispiel von Syrien zeigt, dass nicht mehr Überzeugung, sondern die Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit zu den Waffen führt. Und in dieser Entwicklung verlieren Ethik und Moral an Bedeutung. Aktivismus, so würde Adachi wohl sagen, ist nicht den Leuten eine Haltung aufzuzeigen, für die es sich zu kämpfen lohnt, sondern Mittel zur Verfügung zu stellen, die diesen Kampf hinterfragen und die Leute dazu bringen, ihn auch verstehen zu wollen.

Appell an das Gewissen der Menschheit

Die Stärke des Films muss also in einer Währung gemessen werden, welche die unabhängige Meinungsbildung des Zuschauers in den Vordergrund stellt. Die Währung heisst zum Beispiel Google. Was ist wahr? Wie sind die Fakten? Was geschieht im syrischen Bürgerkrieg? Wer kämpft eigentlich wofür und mit welchen Bomben? Die Währung heisst aber auch Ohnmacht, denn jeder Betrachter muss schlussendlich zum selben Schluss kommen wie Michel, Lili und, ausser dem Doktor, der Rest der kleinen Runde am Küchentisch. Nämlich, dass Gewalt und Gegengewalt zu keiner Lösung führen können und nur die Vernunft jedes Einzelnen im Sinne eines pazifistischen Aktivismus’ den ewigen Krieg lösen kann. Oder wie es Hany Abu-Assad für Paradise Now auf die Frage, was ihm in Anbetracht der derzeitigen Lage noch Hoffnung gebe, ausdrückt: Das Gewissen der Juden. Sie waren immer das Gewissen der Menschheit, wohin immer sie auch gingen. Nicht alle, aber Teile von ihnen. Sie haben Ethik und Moral erfunden und dieses Gewissen ist noch immer lebendig.

Wie Paradise Now spricht sich The Ugly One also klar gegen den bewaffneten Widerstand aus. Eine alternative Antwort was zu tun ist, kann er aber nicht geben. Stattdessen führt er den Zuschauer in die Ohnmacht, welche die vollständige Abhängigkeit von der globalen Vernunft nach sich zieht. Wenn aber der Glaube an eine friedliche und gerechte Zukunft kein Schauspiel sein soll, dann hängt er an Filmen wie diesem.

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