Vom Buch zum E-Book und zurück

KulturMedienWandel
KulturMedienWandel ist eine gemeinsame Rubrik der Plattform Kulturpublizistik und von Migros-Kulturprozent Online. In dieser Rubrik werden Phänomene und Entwicklungen im Schnittfeld von Kultur und Medien aufgegriffen, reflektiert und kommentiert.
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Von Christian Felix, 13.10.2013
Dem E-Book gehört die Zukunft, so wenigstens sieht es derzeit aus. Diese Entwicklung bringt Bewegung in den Buchhandel und löst zugleich auch Besorgnis aus. Erwartet und zum Teil befürchtet werden Veränderungen in der Literatur und Lesekultur. Die Debatte darüber füllt schon Bände, kaum ist sie richtig in Gang gekommen. Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse ein Überblick zu E-Books, Online-Verkauf und das Selbstverlegen von Büchern – auch aus der Perspektive Zürcher Buchhandlungen und Verlage.
Wir schreiben das Jahr 2286. Leutnant Uhura, eine Afrikanerin, begibt sich auf dem «Raumschiff Enterprise» von der Kommandobrücke in ihr Zimmer. Dort liest sie auf ihrem Bildschirm ein Buch, ein Buch ohne Deckel, ohne Seiten aus Papier. Das Ding hat in der Szene keinen Namen. Als der Science-Fiction-Serie ab 1966 gedreht wurde, war diese Form einer Abendlektüre Zukunftsmusik: Niemand las ein Buch auf einem Bildschirm. Genauso, wie sich niemand vorstellen konnte, dass eine schwarze Frau in einem Kommandoraum je etwas verloren haben würde.
Das E-Book in der Hosentasche
13. Oktober 2013. Die Buchmesse Frankfurt schliesst ihre Tore. Eine schwarze Frau wohnt und wirkt im Weissen Haus. Und das Buch, das Leutnant Uhura 1966 im Kommandoraum liest, nennt man heute mit aller Selbstverständlichkeit E-Book. An der Buchmesse wurde über E-Book-Flatrates diskutiert, über Social Reading und über das Lesegerät der Zukunft.
Szenenwechsel. Flughafen Zürich: Warten auf den Start. Der Mann im Nebensitz hat sein Kindle-Lesegerät eingeschaltet. Darauf habe er eine ganze Bibliothek gespeichert, erklärt der Vater von zwei Kindern: «Früher schleppten wir kofferweise Bücher in den Strandurlaub. Heute reicht ein Lesegerät. Es findet in der Hosentasche Platz, es braucht kaum noch Strom, und der Text ist selbst bei Tageslicht lesbar.» Diese Argumente für das digitale Buch lassen keinen Widerspruch aufkommen. «Selbst Bücherregale werden überflüssig, d.h. auch abstauben und…» In diesem Moment erklingt die Durchsage zum Start: «Wir bitten Sie nun die Sitzgurte festzuschnallen und alle elektronischen Geräte auszuschalten.» – Doch machen wir uns nichts vor: Heute sind es Kinderkrankheiten, die Lesegeräte noch etwas unpraktisch machen. Das E-Book befindet sich auf dem Vormarsch.
Mitteleuropa 2286. James T. Kirk, Kapitän der «Enterprise» spricht den berühmten Satz: «Beam me up Scotty, there is no intelligent life down here.» – Not any more. Die Menschheit ist verblödet und völlig kindisch geworden. Weil niemand mehr liest. Alle Bücher sind in einer Wolke («Cloud») verschwunden. Ähnlich wie das Fernsehen befördert das Internet nur noch Müll auf den Bildschirm. Weil es die Konsumenten das angeblich immer so haben wollten.
Thomas Heilmann, Geschäftsleiter des Rotpunktverlags in Zürich (RPV), relativiert: «Noch bei jedem Medienwandel hiess es, nun werde alles anders. Doch dann pendelte sich bald wieder ein neues Gleichgewicht ein.» So geht man auch nach der Erfindung des Radios weiter in Konzerte, erhält trotz E-Mails und weiss der Kuckkuck welcher Chat-Foren noch ab und zu eine Ansichtskarte. (Den Absendern sei an dieser Stelle herzlich gedankt.)
Das E-Book im Buchladen
Keinerlei Berührungsängste mit dem E-Book hat Cornelia Schweizer. Sie führt die Buchhandlung am Hottingerplatz in Zürich. Buchhandlungen verschwinden, Buchladen-Ketten wie Orell Füssli und Thalia Schweiz schliessen sich zusammen. Auf diese Entwicklung angesprochen schmunzelt Frau Schweizer. «Dass Buchläden schliessen, ist doch nicht neu. Dafür gibt es vielfältige Gründe, eine ungelöste Nachfolge oder veränderte Mietverhältnisse, der hohe Schweizer Franken oder schlicht untaugliche Geschäftsführung. E-Books (digitale Bücher) sind sicher nicht der alleinige Grund. Wenn grosse Händler überdimensionierte Ladenflächen abbauen, schafft das sogar Brachland für Neues.» Cornelia Schweizer war vor gut zehn Jahren die erste in Zürich, die in ihrer Buchhandlung digitale Bücher anbot. Heute stehen auf ihrer Website und in ihrem Laden 450’000 E-Books zur Verfügung. «Dies ist eine Ergänzung zum traditionellen Sortiment. Der Buchhandel darf sicher keine abwehrende Haltung gegenüber neuen Medien einnehmen. Man muss früh dabei sind, um das Angebot mitzuprägen und zu gestalten.»
E-Books sind Bücher, die ein Leser oder eine Leserin in elektronischer Form für ein Lesegerät erwirbt. Weder die Buchhändler noch die Kunden nehmen je ein gebundenes Buch in die Hand. In der Schweiz machen laut SBVV (Schweizerischer Buchhändler- und Verlegerverband) digitale Bücher derzeit drei Prozent des Umsatzes aus (bei allerdings geringerem Preis pro Buch). In den Vereinigten Staaten erreichte diese Zahl im Juli 2012 bereits dreissig Prozent. Nicht mit E-Books zu verwechseln sind Bücher – gedruckte und digitale, die online vertrieben werden. Der Online-Verkauf gewinnt als Vertriebskanal laufend Marktanteile. In den USA stieg dieser von 25 Prozent im Jahr 2010 auf knapp 48 Prozent letztes Jahr. Dies ging jedoch gerade nicht zu Lasten der unabhängigen Einzelbuchhändler. Den grössten Einbruch haben die grossen Buchladenketten erlitten. Davon zeugt auch die erwähnte Fusion zwischen Orell Füssli und Thalia Schweiz.
Cornelia Schweizer verwundert das nicht. «Kundinnen und Kunden kommen in den Laden, weil sie sich hier willkommen fühlen und in Ruhe schmökern können. Hier sind Bücher vorhanden, vorsortiert – daher das Wort Sortiment.» Als Buchhändlerin sucht sie besonders gern «Trüffel» unter den Büchern, das heisst, wenig bekannte und besprochene Geschichten, die sie begeistern, die sie fördern und den Lesern vermitteln will. Ihr Motto: «Bei uns finden Sie das Buch, von dem Sie nicht wussten, dass Sie es gesucht haben.» Cornelia Schweizer will Pfeffer in der Suppe. Sie will Büchern eine Bühne verschaffen. Damit das gelingt, reicht es nicht, Bücher zu verkaufen, es reicht vielleicht nicht mal, eine ernorme Anzahl von Büchern und Buchbesprechungen zu lesen. Viele Buchhändler greifen aktiv in die Literaturvermittlung ein. Cornelia Schweizer gründete die «Lange Nacht der Bücher». Daraus wurde vor zwei Jahren «Zürich liest» (das von Kulturkritik.ch intensiv begleitet wird). Beteiligt sind heute alle Zürcher Buchhändler und Verlage. «Nicht jammern, handeln!» heisst es am Hottingerplatz.
Der E-Book-Autor
Die Qualität der Literaturvermittlung, ob über Buchhändler, über private Lesekreise oder Literaturkritik in den Medien, hängt also bestimmt nicht von der Erscheinungsform eines Texts ab. Die Digitalisierung beeinflusst jedoch umso mehr das andere Ende der Kette; die Buchproduktion. Heute brauchen Bücher grundsätzlich nicht mehr gedruckt und verlegt zu werden. Ein Autor oder eine Autorin kann einen Text online hochladen und als E-Book direkt dem Publikum anbieten. Dazu gibt es eine ganze Reihe von Plattformen. Amazon ist nur die bekannteste davon. Diese Entwicklung trifft vor allem die Verlage.
Thomas Heilmann vom Rotpunktverlag zeigt sich skeptisch gegenüber solchen Büchern. «Man ist sich gar nicht bewusst, welche tief greifenden Eingriffe das Lektorat eines Buchtextes oft mit sich bringt. Ein gutes Lektorat durch den Verlag bedeutet für ein Buch einen Qualitätssprung. Ein Autor, der sein Buch ohne Verlag herausbringt, straft sich am Ende selbst. Seine Texte gehen ja nicht mal durch eine Korrektur. Ich bin überzeugt, dass Amazon und andere Anbieter von Plattformen früher oder später ein Lektorat aufziehen müssen.»
Ganz anders sieht das Juliane Reichwein. «Für viele Autoren heisst die Alternative, selbst zu publizieren oder ihr Manuskript auf ewig in der Schublade verschwinden zu lassen. Wenn sie es auf dem Netz veröffentlichen, haben sie wenigstens eine Chance, Leser zu finden.» Juliane Reichwein arbeitet für die Publikationsplattform Neobooks. Diese gehört zum Buchverlag Droemer Knaur. Die Beweggründe für den Verlag, eine solche Plattform aufzuziehen, liegen auf der Hand. Neobooks liefert Droemer Knaur ein Sondierungssystem für neue Schreibtrends. Zudem stösst der Verlag über die Erfolgsquoten der digital veröffentlichen Bücher auf neue Talente – ohne in tausenden von eingesandten Manuskripten in einem aufwändigen Lektoratsverfahren die Stecknadel im Heuhaufen suchen zu müssen.
Autoren, die auf Neobooks selbst publizieren, haben ausserdem die Möglichkeit an einem Wettbewerb teilzunehmen. Die zehn auf dem Netz am besten bewerteten E-Books werden von einem Lektorat geprüft und je nach Eignung ins Verlagsprogramm von Droemer Knaur aufgenommen, zum Teil sogar als gedrucktes Taschenbuch. Diese Texte durchlaufen ein Lektorat wie alle anderen Verlagstitel auch. Beispiele für erfolgreiche Neobooks Autorinnen, die es ins Knaur Taschenbuch geschafft haben, sind Birgit Böckli und Susanna Ernst.
Auf das fehlende Lektorat angesprochen, weist Juliane Reichwein noch auf etwas anderes hin. Bei einem Buch, das Beachtung findet, gibt es auf dem Netz eine Debatte. Autoren, deren Leseproben grosse Schwächen aufweisen, werden von anderen Benutzern oft gewarnt. So haben sie die Möglichkeit, ihr Buch zu überarbeiten, bevor sie es im Handel vertreiben. Die Erfahrung zeigt, dass die bei Neobooks erfolgreichen Texte meist sorgfältig bearbeitet sind. Die Autoren kümmern sich sogar teilweise selbst um die Korrektur.
Finanziell spricht für einen Autoren nichts gegen die Selbstveröffentlichung. Die Anbieter von online publizierten Büchern bestimmen den Preis dafür selbst. Da bei unbekannten Autoren die Zahlungsbereitschaft geringer ist, hat sich der durchschnittliche Verkaufspreis bei Neobooks zwischen 2.60 und 3.00 Euro eingependelt. Davon erhält die Autorin oder der Autor bei Neobooks siebzig Prozent. Praktisch gleich sieht es bei Amazon aus.
«Wer die gigantische Arbeit auf sich nimmt, einen literarischen Text zu schreiben, dem kann es nicht ums Geld gehen», entgegnet Thomas Heilmann. «Jemand, der schreibt, will ein Feedback. Er oder sie sucht die Bestätigung durch einen erfahrenen Lektor, die Auseinandersetzung um den Text, in einem Wort: das Erlebnis. Ein Autor will zu einem bestimmten Kreis gehören. Das Ja eines Lektors ist für ihn die halbe Miete.» Ein guter Verlag sei für Schreibende so etwas wie eine erste Auszeichnung. Das eigene Buch in Händen, das ist offenbar immer noch der grösste Wunsch aller Neuautoren. Beim Neobooks-Wettbewerb winkt als Preis nichts Anderes: Der digitaler Text der Gewinner wird am Ende doch gedruckt.
Das E-Book der Zukunft
Dennoch ist bei jüngeren Schreibenden eine Verschiebung hin zu anderen Werten denkbar. Bei neuen Autoren von Amazon sind fünf der zehn meistverkauften Bücher als Selbstveröffentlichung erschienen (von den ersten hundert sind es 52). Offen bleibt dabei nur die Frage, welche Qualität diese Erfolgsbücher aufweisen. Die beiden genannten Neobook Autorinnen haben Bücher mit einem überraschenden Handlungsablauf und vor allem einem grossem Unterhaltungswert geschrieben. Klar. Wie sonst begeistert sich das Netzpublikum für einen Text? Eher schwer haben es bei Neobooks und Amazon hingegen Lyrik oder Kurzgeschichten im Stil einer Herta Müller. Die Trüffel der Literatur, nach Cornelia Schweizer, werden vom Netz eher nicht zu Tage gefördert.
Die E-Book-Plattformen verknüpfen Autoren direkt mit dem Leser, ohne dass sich ein Verlagslektor dazwischen stellt, ein Lektor, der sich ja auch täuschen kann. So gesehen demokratisiert das E-Book den Buchmarkt. Nur dass Demokratie und Kunst in einem neurotischen Verhältnis zueinander stehen. In der Regel bilden sie sogar ein Gegensatzpaar. Es ist eine alte Weisheit: Der Massengeschmack trifft sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dieser ist genau das Gegenteil von Kunst. Die Werke von – zum Beispiel – Marcel Proust oder Franz Kafka wären vom freien Buchmarkt allein kaum je ans Licht der Öffentlichkeit getragen worden.
Das Besondere und das Neue einer Epoche ist stets auf einzelne Kenner angewiesen, auf Träumer, ja sogar auf Fanatiker. Ob auf Papier oder Bildschirm, die Qualität der Literatur hängt von Menschen ab wie dem mutigen Verleger, dem exzentrischen Geldgeber, dem wachen Kritiker. Am Ende der Kette steht der neugierige Leser, der sich auf das Ungewöhnliche einlässt. Es ist in keiner Weise voraussehbar, ob es diesen Leser oder diese Leserin für alle Zukunft, bis ins Jahr 2286, noch geben wird. Dazu müsste man ja wissen, was Leutnant Uhura auf ihrem Bildschirm liest…