Genialer Dilettantismus

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Dilettanten & Genies
Wo: Remise Lagerstrasse
Wann: 16.02.2013
Bereich: Literatur

Der Autor

Nicolas Bollinger: Jahrgang 1984. Schreibt für das Bieler Tagblatt. Studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Bern und derzeit Journalismus am MAZ Luzern und an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg.

Die Kritik

Lektorat: Moritz Weber.

Von Nicolas Bollinger, 19.2.2013

Das italienische Wort dilettante (pl. dilettanti; von lat. delectare ‘[sich] erfreuen’) bezeichnet den «Liebhaber einer Kunst, die er nur zum Vergnügen betreibt», während man unter einem Genie eine Person mit überragend schöpferischer Geisteskraft versteht. Manch ein Genie bleibt zeitlebens unerkannt und fristet die Existenz eines Dilettanten. Das alte nominalistische Diktum esse est percipi, «Sein ist Wahrgenommenwerden» gilt hier unerbittlich: Das Genie benötigt ein Publikum, will es denn als solches erkannt werden. Das unter dem Moto Dilettanten & Genies laufende Literaturfest in der Remise wollte nichts weiter, als solch eine Möglichkeit zu bieten, aber nicht so bierernst, wie diese Einleitung es hier vermuten lässt.

Die beiden Jungautorinnen Michelle Steinbeck und Rebecca Gisler sowie das Kulturmagazin Quottom luden zu einem Abend voller Kreativität in das ehemalige Dienstgebäude Nr. 9 der SBB und sorgten mit Leichtigkeit für ein volles Haus. Die Ankündigung im Vorfeld war offensichtlich auf breites Interesse gestossen:

Sieben aufstrebende Schreibtalente präsentieren ihr Schaffen und demonstrieren damit eindrücklich den innovativen Esprit der jungen Literaturszene. Das antiquiert und verstaubt anmutende Konzept des schlichten Vortragens weicht weitaus kreativeren Darstellungsformen: Literatur soll nicht museal ausgestellt, sondern in Lesungen, Performances, Installationen und Liedern gefeiert und gelebt werden. Ein Anspruch, der zumindest teilweise erfüllt wurde.

Sprachpurismus, Redeschwall und Selbstreflexion

Den Anfang macht der Berner Michael Fehr, dessen Erstling Kurz vor der Erlösung demnächst in den Regalen steht. In bewusst langsamem und abgehackt klingendem Berndeutsch erzählt er «so eine Art Liebesgeschichte». Ein Mann ist allein. Der Himmel ist Blau. Das Häuslein ist dunkelbraun. Aus Sommer wird Winter. Aus Winter wird Frühling. Die Jahre vergehen. Plötzlich ist da eine Frau. Er nahm diese Frau zu seiner Frau. Fehr bedient sich einer Sprache, die auf das Allerwesentlichste reduziert ist. Eine Sprache, die nicht wuchert, sondern monolithisch den Raum besetzt und klare, fast archetypische Bilder evoziert. So auch seine Geschichten zu Bildern, zu Postkartenmotiven eines verschneiten Winterwaldes: «Der Wald ist unberechenbar. Besonders für kleine Leute.» Bilder werden ins Sprachliche destilliert, werden zu Essenzen, Sprachbildern. Das ist nicht nur beindruckend, sondern auch von einer Komik, die zugleich unterhält und irritiert.

Rebecca Gisler, Mitorganisatorin dieses Abends, öffnet dem Publikum die Gedankenwelt eines Ich-Erzählers; ein Fluss aus Erinnerungen und Beobachtungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zieht den Hörer in seinen Bann.

Der zweite Berner Autor Sebastian Steffen präsentiert seine Texte in musikalischer Form mit der Gitarre. Auf den ersten Blick verschmitzt-charmant, etwas verpennt wirkend mit treuem Hundeblick, steht er jedoch in krassem Kontrast zu Michel Fehr und zündet ein wahres Feuerwerk an Worten. Ein Bewusstseinsstrom ohne Punkt und Komma, nur selten durch ein Luftholen unterbrochen und durch simple Gitarrenakkorde rhythmisiert, mal in freier Form, mal in Reimen, reisst jeden der Anwesenden mit. Steffen berichtet, erzählt, klagt; es geht um Probleme und Beobachtungen des Alltags. Mal lamentiert er über ein versoffenes Stipendium, Ärger mit den Frauen und ungewollte Vaterschaft, mal zeigt er sich als reuiger Sünder, der im Suff wieder einmal aus Versehen eine Band gegründet hat. Und all dies geschieht mit einer derart extremen Gelassenheit, dass es witziger nicht sein könnte.

Extravagant und fast etwas aristokratisch in eine Pelzrobe gehüllt, geht Michelle Steinbeck ihren Auftritt mit einer gehörigen Dosis Selbstinszenierung an, wenn auch nicht ohne Ironie. Ihre bösartig geschilderten Rachefantasien ob erlittener Demütigung gipfeln in einen Mord aus Versehen und die damit verbundenen Probleme, eine Leiche loszuwerden. Das Reflektieren über das eigene Schreiben, ihren Drang zu schreiben und auch die Unfähigkeit zu Schreiben durchdringt dabei permanent den Text. Ein wahrhaft maliziöses Vergnügen, in dem die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit sich in der Unkenntlichkeit auflöst.

Ernsthaftigkeit, Komik und Literatur auf Bestellung

Claudia Amsler interpretiert Text als Collage, ein Gewebe aus Sätzen, Bildern und Klängen. An écriture automatique erinnernde Sätze und Wortsequenzen werden assoziativ zu projizierten Bildern, Fotografien, fragmentierten Gesichtern und Masken montiert und entfalten dabei in ihrer Wirkung ein kryptisch-verstörendes Raunen. Die Autorin spielt mit der Sprache, kultiviert den Text als rhizomatisch wucherndes Gewebe aus Strängen, die sie fortlaufend fortspinnt und dann wieder abrupt abreissen lässt. Die von Amsler gestellte Schlussfrage «…und was will das?» kann allerdings als symptomatisch für diese performative Art von Literatur angesehen werden: Die Autorin nimmt ihr Schaffen doch etwas gar ernst; etwas zu bedeutungsschwanger wabert die Performance; das ein wenig irritierte Publikum hätte sich vermutlich auch eine Prise Ironie gewünscht.

Den höchstvergnüglichen Abschluss dieses Abends bildet Anton Meier, ein Bünzli mit Schnauzbart und John Deere-Mütze, der in Wahrheit zwar eine Frau ist, was aufgrund der grossartigen Komik des Auftritts aber niemanden zu stören scheint. Wir tauchen ein in die skurril-paranoide Gedankenwelt eines spiessigen, vereinsamten Kleinbürgers namens Gerhard, «ein spezieller Mensch mit spezieller Wahrnehmung», der sich am liebsten am See eines Parks aufhält, um dort eine von ihm konzipierte Turnübung zu praktizieren, die er den «Flamingo» nennt. Als Gerhard jedoch eines Tages einen menschlichen Fuss im See findet, fühlt er sich als selbsternannter «Kommissär» zur Auflösung eines kriminalistischen Rätsels verpflichtet, in das eine Ente, die Angelfischer Schweiz, eine dicke Securitasbeamte namens Blüeler mit ihrem Hund Grimsel sowie eine Gruppe Jugendlicher um Corsin, Kevin und Krückenpatrick verwickelt sind. Das Publikum findet an dieser urkomischen Verschwörungsfantasie offensichtlich Gefallen und dankt es ausgiebig mit Gelächter und Applaus.

Auch wenn dieser Abend der Welt kein neues literarisches Genie offenbart hat, so war er doch enorm unterhaltsam und ein eindrückliches Beispiel für den kreativen und innovativen Geist, welcher gegenwärtig in der jungen Literaturszene herrscht. Das zeigt sich nicht zuletzt auch am Beispiel von Julia Weber, die mit ihrem Literaturdienst während des ganzen Abends auf Wunsch Texte mit ihrer Schreibmaschine produziert hat. Aus dem eigens für den hier schreibenden Kritiker angefertigten Gedicht stammt auch das Schlusswort:

«Kunst ist vielfältig.»

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