Über Leben

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Destin Cretton: Short Term 12
Wo: Filmfestival Locarno, Concorso Internazionale
Wann: 11.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013

Filmfestival Locarno

Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Miriam Suter: Jahrgang 1988, Kulturredaktorin und freie Journalistin, Gründerin und Chefredaktion Moustache Magazin. Fährt so oft sie kann nach Paris und hofft, dort bald ihren ersten Roman zu Ende schreiben zu können.

Die Kritik

Lektorat: Nina Laky.

Von Miriam Suter, 25.8.2013

Welche Art Eltern wollen wir sein? Wir stellen uns diese grosse Frage oft erst dann wirklich, wenn wir nicht mehr anders können – als werdende Väter oder Mütter. Eigentlich ist sie aber eine der zentralsten in unserem Leben, denn die Überlegungen dahinter zeigen, wie wir uns sehen, wie wir sind, wie wir sein wollen und worüber wir uns definieren. Im Film «Short Term 12» muss sich Grace (Brie Larson) mit dieser Frage auseinandersetzen, als sie von ihrem Freund Marson (John Gallagher Jr.) schwanger wird. Für Grace ist hier aber mehr dahinter als die Frage, welche Art Mutter sie sein will. Denn obwohl sie tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeitet ist der Gedanke an eigene Kinder für Grace etwas, das ihr Mühe bereitet.

«Short Term 12» ist der Name des Wohnheims, in dem Grace, unter anderem zusammen mit Marson, als Betreuerin arbeitet. Eine Art Auffangstation für Kinder und Jugendliche mit einer schweren Vergangenheit. Hier können sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr bleiben. Dass diese Arbeit nicht nur psychisch, sondern auch körperlich absorbierend ist, wird in einer der ersten Szenen deutlich: Die Mitarbeiter stehen zusammen während einer Pause vor dem Wohnheim, als Sammy (Alex Colloway) aus der Tür geschossen kommt, worauf ihn die Betreuer über den Rasen jagen und ihn schliesslich, zu Boden gedrückt, beruhigen können. Hier wird klar: Jeder im Short Term 12 hat seine ganz eigenen Probleme.

Wir erleben Grace während ihrer Arbeit als sehr gefasst und organisiert, als «Boss» des Wohnheims. Diese Fassade beginnt zu bröckeln, als Jayden (Kaitlyn Dever) neu ins Wohnheim kommt. Der schwer zugängliche Teenager blockt von Anfang an jeden Kontakt zu den anderen Kids und zu den Betreuern komplett ab, im Wissen, dass sie sowieso nicht lange hier bleiben wird. Schliesslich war es in den Wohnheimen und Anstalten vorher nicht anders. Ab hier erleben wir eine Veränderung von Grace: Sie versucht, Jaydens Schale zu knacken, ihr eine Freundin zu werden, wie sie es für die anderen Kinder bereits ist. Und erkennt dabei, wie viel von Jaydens Geschichte ihre eigene ist. Grace fällt es zunehmend schwerer, den nötigen emotionalen Abstand zu Jayden zu halten und zwischen den beiden entwickelt sich schliesslich eine Freundschaft, die manchmal sogar ohne Worte funktioniert.

So sehr sich Grace gegenüber Jayden öffnen kann, so verschlossen ist sie ihrem Freund gegenüber. Marson hat selber eine bewegte Geschichte und wuchs als Adoptivsohn in einer grossen, liebevollen Familie auf. Er gibt sich alle Mühe, seiner Freundin mit Verständnis und Rücksicht gegenüber zu treten, doch auch er stösst an seine Grenzen – weil ihm Grace auch nach zwei Jahren Beziehung nicht alles über ihre Vergangeheit erzählen kann. Je tiefer die Freundschaft mit Jayden wird, umso mehr findet Grace den Zugang zu ihrer eigenen Vergangenheit. Etwa wenn Jayden Grace eine selbst geschriebene Kindergeschichte vorliest, von Nina dem Tintenfischmädchen, das von einem bösen Hai aufgefressen wird, weil es sein Freund sein wollte. In dieser Schlüsselszene brechen Graces Dämme entgültig und uns wird klar, welche Vergangheit Grace quält. Die entügltige Auflösung liefert der Film in einer Szene, in der Grace den Anruf erhält, dass ihr Vater aus dem Gefängis entlassen wird – diese Nachricht zieht ihr den Boden unter den Füssen weg. Und Marson versteht endlich. Warum Grace ihn beim Vorspiel plötzlich ohrfeigt und nicht weiter machen kann. Warum sie sein Baby nicht behalten kann und insgeheim schon direkt nach dem positiven Test beim Frauenarzt einen Termin für die Abtreibung gemacht hat. Und warum sie vor Jahren bereits eine Abreibung hat durchführen lassen.

Nach der Nachricht über die Freilassung ihres Vaters gelingt es Grace nicht mehr, eine Grenze zwischen ihrer und Jaydens Geschichte zu ziehen und sie überschreitet ihre Grenzen als Betreuerin endgültig. Es gelingt ihr schliesslich, Jayden zu einer polizeilichen Aussage zu bringen und sie so von ihrem Vater wegzuholen. Dass der Teeanger den Kampf gegen den väterlichen Missbrauch aufnimmt, macht Grace neuen Mut und zeigt ihr, wie wichtig es ist, sich nicht von seiner Vergangenheit kaputt machen zu lassen. «Short Term 12» lässt den Zuschauer herzhaft lachen und bitterlich weinen. Manche Kids im Wohnheim haben in ihrem jungen Alter schon mehr Leid erlebt als ein ganzes Leben ertragen kann. Der Film lebt vor allem durch die Schauspieler, die überwältigende Arbeit leisten. Etwa Keith Stanfields eindrückliche Interpretation von Marcus, einem unnahbaren Teeanger, der das Heim aufgrund seiner bevorstehenden Volljährigkeit verlassen muss. Es gibt eine Szene im Film, in der Marcus mit Marson auf seinem Bett sitzt und ihm sein neustes Rapstück zeigt. Der Text ist dermasen ehrlich, traurig und verstörend, dass man als Zuschauer mit den Tränen kämpft. Keith Stanfield lässt die Traurigkeit in Marcus’ Augen zur eigenen werden.

«Short Term 12» von Destin Cretton ist kein typischer Film über die Probleme von Mittzwanzigern. Er ist auch kein moralischer Zeigefinger, sondern zeigt uns grosse Fragen des Lebens: Heilen die Wunden der Vergangenheit jemals vollkommen? Kann man jenen helfen, mit denen man zu sehr mitleidet? Und der Film lehrt uns, dass wir wohl niemals unserer Vergangeheit entkommen können, sehr wohl aber unsere Zukunft in der Hand haben. Mit der Thematik des Erwachsenwerdens, des Missbrauchs durch Väter und das Finden des eigenen Ichs bringt «Short Term 12« gewiss keine neuen Ideen auf die Leinwand. Auch die Storyline lässt an einigen Stellen zu wünschen übrig, etwa wird die Figur des Teeniemädchens Jayden etwas zu schnell eingeführt, werden die restlichen Charakteren etwas zu schnell mit ihr vertraut. Alles in allem lässt “Short Term 12” aber die Generation der doch immer etwas verlorenen Twentysomethings (einmal mehr) reflektieren und die eigenen Probleme in Kontext setzen. Etwa, dass das mit dem Erwachsenwerden doch gar nicht so schlimm ist. Dass es Schicksale gibt, die schlimmer sind als ein Minus auf dem Konto. Und dass wir mit dem richtigen Background mindestens so viel Liebe zurück bekommen, wie wir geben.

Weiterlesen: