Im Bann der Pest

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Der Belagerungszustand
Wo: Theater der Künste, Bühne B
Wann: 16.01.2013
Bereich: Theater

Der Autor

Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.

Die Kritik

Lektorat: Patricia Schmidt.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Tilman Hoffer, 20.1.2013

Im Angesicht der Katastrophe werden die Menschen von widersprüchlichen Affekten befallen. Wenn die Krise gross genug ist, ist irgendwann klar, dass die Ordnung in Frage gestellt ist, dass sie bedeutungslos wird – zumal, wenn sie schon vorher ziemlich dürftig und korrupt war. Jetzt gabelt sich scheinbar der Weg, die eine Richtung heisst Fatalismus, die andere heisst Angst. Als die Stadt Cádiz von einem Kometen bedroht wird, sind die Regierenden und die Bürger heillos überfordert. Auf der Bühne ist es mit der anfänglichen Stille schnell vorbei, vom Gouverneur bis zum Clochard rennt alles durcheinander, versucht sich entweder in Beschwichtigung oder in apokalyptischen Phantasien.

Die morschen Knochen der Welt

Ideale Bedingungen für eine Epidemie – oder eine Machtübernahme. In Camus’ allegorischem Stück «Der Belagerungszustand» wird der Terror aber nicht von irgendjemandem ausgeübt, sondern von der Pest persönlich. Das Regime wechselt und ein Apparat der Unterdrückung wird in Anschlag gebracht: Unter Quarantäne ist es nicht nur erlaubt, sondern notwendig, die Leute in ihren Häusern einzusperren, die Infizierten von ihren Familien zu trennen, jede Bewegung zu kontrollieren. Das ist sie, die berühmte Alternativlosigkeit. Der Tod, der früher noch kam, wann er es wollte, ist zur ausführenden Angestellten der Pest herabgesunken, zu einer Art Schreibkraft mit beschränkten Befugnissen, die von der Pest ihre Anweisungen diktiert bekommt.

Diese Pest nun ist das eigentliche Ereignis der Aufführung. Wenn der Untergang kommt, dann wird er burlesk sein. Mehmet Atesci spielt die Pest mal brutal und gewalttätig, mal überzogen affektiert, mal sarkastisch grinsend; er ist abwechselnd ein Panther und eine Hyäne; er wirkt mal wie ein transsexueller Dandy, mal wie eine Mischung aus Mephisto und Joker à la Heath Ledger. Kurz, die Inkarnation des Bösen ist cool as fuck. Das Bühnenbild ist frugal, aber gekonnt (die wichtigsten Requisiten sind Mikrofone und Taschenlampen), der einzige wirkliche Clou ist ein schwarzer begehbarer Kubus am Rande der Bühne. Von diesem Kubus aus verkündet die Pest: «Ich herrsche nach meinen eigenen Regeln. Man könnte auch sagen: Ich funktioniere.» Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Pest ist bürokratisch, aber sie hat auch Charisma. Sie ist die Logik, aber sie ist auch der Wahnsinn. Es gibt in der Phantasie des Abendlandes zwei Träume von der Pest: den Traum der totalen Kontrolle und den Traum der totalen Anarchie. Das Regime, das die Pest und der Tod bei Camus über die Stadt errichten, ist beides: zum einen zynisch und rational, zum anderen wild und grausam, besoffen von Macht und Blut.

«Es zittern die morschen Knochen der Welt», sangen die Nazis. Und in der Tat, der ganze Laden ist im Eimer. Willfährig tritt der Gouverneur die Macht an die neuen Gewalten ab, die in Wirklichkeit so alt sind wie der Mensch selbst. Die Ordnung verschwindet wie ein Gesicht im Sand? Gut, dann ist der Weg ja frei für die Ordnung des Schreckens. Und die Leute folgen ihr bereitwillig. Nur der junge Arzt Diego, der Mensch in der Revolte, fordert die neuen Machthaber heraus.

Ach, der Humanismus

An den Stellen, die den ernsten Plädoyers Diegos zugunsten der Freiheit und der Aufrichtigkeit gewidmet sind, ist Camus’ Text von tiefer humanistischer Moralität durchdrungen. Möglicherweise gereicht es der Inszenierung von Christoph Frick zur Ehre, diesen Passagen den nötigen Platz einzuräumen und sie geradezu brav in getragener Feierlichkeit deklamieren zu lassen. Doch andererseits wirkt diese Stimme der Menschlichkeit und der Zivilisation bald wie – man muss es leider sagen – sentimentales Geschwafel, wie eine Verkettung selbstgerechter Phrasen. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um einen Sturm der Entrüstung hervorzurufen.

Wenn es Diego wenigstens um die Liebe gehen würde. Doch er kämpft nicht um die Liebe, sondern um seinen Stolz und seine Ehre. Das ist es im Grunde, was ihn uns heute so fremd erscheinen lässt. Dabei gibt es kurze Dialoge von erlesener Schönheit: Liebesgeflüster, so rein wie ein Bach unberührten Quellwassers. Und das ist keineswegs irrelevant, immerhin strebt die Tyrannei danach, die Liebe auszurotten. «Unsere Sprache», sagt Viktoria, Diegos Geliebte, verträumt und lächelnd, womit sie meint: unsere private Sprache; die Sprache, die uns niemand nehmen kann. Das Problem ist nur, dass der Zuschauer überhaupt nicht diesen Eindruck bekommt. Diego als wirklicher Mensch kommt nicht bei ihm an, dafür ist sein Auftreten viel zu pathetisch. Liegt das nun an der schauspielerischen Leistung oder am Stück? Man könnte schlichtweg sagen: Nun gut, dieser Diego ist eben ein Idiot. Auch wenn es sich eventuell um eine Vereinfachung handelt, die den subtilen moralischen Dilemmata der weiteren Handlung nicht gerecht wird: Man ist heute einfach ein bisschen zu erwachsen für diese Art von atheistischer Befreiungstheologie.

Die Freiheit, das Böse zu tun

In der Diktatur ist jeder zugleich freier Bürger, Gefangener und Wärter. Er verleibt sich die Regeln der Kontrolle ein. Zugleich ist er dann frei, wenn er produzieren und Handel treiben soll, damit nicht alles zusammenbricht. Und er passt natürlich auf, dass auch sein Nachbar sich benimmt. Das Erleiden der Brutalität ist nicht zu trennen von der Lust, sie auszuüben. Denn die Pest ist schlau: Sie weiss, dass die Menschen eigennützig, grausam, gierig und opportunistisch sind. Mit anderen Worten: dass die Menschen genau wie sie wären, wenn sie nur könnten.

Nun hält sich die Inszenierung – trotz leichtem Tohuwabohu am Anfang – weitgehend am Text fest, sodass man immer noch einen Hauch reflektierender Distanz bewahrt. Doch in einigen wenigen Momenten wird man ganz und gar hingerissen von der exaltierten Feier der Zerstörung, die mit unerbittlicher Konsequenz vorangetrieben wird. Denn die Pest hat Stil, sie ist gleichzeitig mystisch und ironisch. Genau wie Diego blickt sie wissend auf das Allzumenschliche. Verachtung für alles, was klein und schwach ist: Darin sind Diego und die Pest sich einig. Diego ist die weisse Antwort. Die Pest ist schwarz, sie ist die Verführung, auf die Kleinheit, die Enttäuschung, die Mittelmässigkeit nicht mit Gnade oder Aufklärung, sondern mit List, Drohung und Gewalt zu antworten. Diese Sprache werden sie ja wohl verstehen. Man möchte Macht, aber nicht um sie zu haben, sondern um sie zu missbrauchen; man bekommt Lust, sich und andere zu infizieren; man bekommt Lust, die Pest zu sein. Ein beeindruckender Effekt, der den Zuschauer ganz auf sich selbst zurückwirft – und durchaus Verwirrung hervorruft.

Die schwarzen Mächte

Erinnert sich noch jemand an Antonin Artaud? Artaud hätte zu der vorliegenden Thematik nicht nur gesagt, dass es ganz natürlich ist, von der Pest fasziniert zu sein, weil sie für die Freisetzung der Skrupellosigkeit und der Zerstörungslust steht; er war auch der Auffassung, dass das Theater selbst wie die Pest ist (und sein sollte!). Artauds Theatertheorie war die bedeutendste des 20. Jahrhunderts, stand aber leider viel zu lange im gigantischen Schatten Brechts. Vollkommen zu Unrecht. Denn Artaud hatte erfasst, zu was Bilder in der Lage sind, wenn sie etwas berühren, das wir für gewöhnlich hinter einem Schleier von Ausreden und gutem Willen verbergen. Aber erteilen wir ihm selbst das Wort. In «Das Theater und sein Double» schreibt er:

«Wenn das wesentliche Theater wie die Pest ist, so nicht deshalb, weil es ansteckend wirkt, sondern weil es wie die Pest die Offenbarung, die Herausstellung, das Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht an Grausamkeit bedeutet, durch die sich in einem Einzelweisen oder in einem ganzen Volk alle perversen Möglichkeiten des Geistes lokalisieren. Wie die Pest ist es die Zeit des Bösen, der Triumph der schwarzen Mächte, die eine noch unergründlichere Macht speist bis zur völligen Auslöschung.»

Und weiter, falls man immer noch nicht begriffen hat, worum es hier geht:

«Es löst Konflikte, es macht Kräfte frei, es bringt Möglichkeiten zur Auslösung, und wenn diese Möglichkeiten und diese Kräfte, diese Mächte schwarz sind, so ist das nicht die Schuld der Pest oder des Theaters, sondern des Lebens.»

Denn so ist es, das Leben. Es wäre frevelhaft, dem noch etwas hinzufügen zu wollen. Schweigen wir also, verneigen wir uns vor Artaud, schmecken wir den Kuss der Dämonen. Blicken wir der Pest ins Gesicht. Der Besuch des Stücks «Der Belagerungszustand» wird empfohlen.

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