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Die Veranstaltung

Was: Daniel und Diego Vega: El Mudo
Wo: Filmfestival Locarno, Concorso Internazionale
Wann: 08.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013

Filmfestival Locarno

Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Miriam Suter: Jahrgang 1988, Kulturredaktorin und freie Journalistin, Gründerin und Chefredaktion Moustache Magazin. Fährt so oft sie kann nach Paris und hofft, dort bald ihren ersten Roman zu Ende schreiben zu können.

Die Kritik

Lektorat: Nina Laky.

Von Miriam Suter, 13.8.2013

Die Vega Brüder Diego und Daniel aus Lima erzählen in „El Mudo“ die Geschichte von Constantino Zegarra (Fernando Bacilio), einem peruanischen Richter. Zegarra wird angeschossen und vermutet dahinter einen Mordanschlag. Denn der Richter gilt als streng, aber gerecht und hat durch seine Urteilssprechungen schon so manchen Familienvater hinter Gitter gebracht – und somit in Peru nicht wenige Feinde, in seinen Augen also potenzielle Mörder. Nachdem die örtliche Polizei nach einer kurzen Phase der Investigation den Fall ad acta legt mit dem Urteil, dass die Kugel, die Zegarras Stimmbänder zerfetzte und ihn stumm zurück lässt, nicht für ihn bestimmt war, nimmt der Richter den Fall selber in die Hand.

Was bleibt, wenn die Sprache wegfällt?

Wo das Gesprochene fehlt, bedarf es eines Ersatzes. Sehr schön umgesetzt hat das 1993 Regisseurin Jane Campion mit ihrem Drama „The Piano“. Die weibliche Hauptfigur der Geschichte, Ada McGrath (Holly Hunter) ist stumm und macht ihr Klavier zu ihrem Stimmorgan. Fortan fungiert die Pianomusik als Ersatz für Adas Stimme und ergreift den Zuschauer womöglich mehr als sprachlich ausgedrückte Emotionen. Die Vega Brüder lassen ihre Figur Constantino aber doch mit Buchstaben kommunizieren: Nach dem Unfall schreibt er alles auf Zettel eines Notizblocks, den er fortan mit sich trägt.

Den Richtigen gefunden

Der ehemalige Theaterlehrer Bacilio spielte in „Chicamo“ von Omar Forero einen betrunkenen Typen, der nur kurz zu sehen ist. Im Casting für die Rolle in „El Mudo“ fragten ihn die Vega Brüder, welche Rolle er in „Chicamo“ gespielt hätte und Bacilio erwiderte nur: „The drunk guy“. „Wir haben ihn in dieser Rolle sofort wieder vor uns gesehen, obwohl er nur einen kurzen Auftritt hatte. Jeder, der den Film gesehen hat, konnte sich an ihn erinnern. Für uns war sofort klar: Wer nach in so kurzer Zeit einen solch prägnanten Eindruck hinterlassen kann, muss ein grossartiger Schauspieler sein – also engagierten wir ihn“, so die Brüder in einem Interview. Und tatsächlich spielt Bacilio die Rolle des Stummen grandios überzeugend. Der Charakterkopf beherrscht seine Mimik derart, dass selbst nachdenkliches Starren in die Ferne nicht aufgesetzt oder übertrieben wirkt.

Omnipräsentes Frauenbild

Dennoch bleibt die Figur Constantino erstaunlich kühl, fast schon abweisend, besonders seiner Familie gegenüber. Einzig als seine Tochter ihm eröffnet, dass sie kein Jura-Studium antreten und somit in seine Fusstapfen treten wird, zeigt der Richter Emotionen: Er weint bittere Tränen. Aus Enttäuschung, aus Hilflosigkeit? Immerhin wurde seine Mutter, ebenfalls Richterin, damals umgebracht. Ihre Anwesenheit zieht sich wie ein roter Faden durch den Film, im Schlafzimmer des Ehepaars prangert ein grosses Porträt der Mutter an der Wand neben dem Bett – die strengen Augen immer auf den Betrachter gerichtet. Der Zuschauer bekommt hier das Gefühl, Constantino will mit seiner Verbissenheit eigentlich den Tod seiner Mutter rächen, sodass alles wieder seine Ordnung hat. Gegen Ende des Films jedoch winkt Constantino und seiner Familie eine vielversprechende Zukunft – zumindest nach seinen Vorstellungen.

Die Sache mit der Selbstjustiz

Ein ebenfalls präsentes Thema in „El Mudo“ ist die Korruption der Polizei, der Justiz und schliesslich auch von Constantinos Familie selber. Constantino kämpft mit seinem starken Sinn für Gerechtigkeit und dem gleichzeitigen Verlangen nach Rache an seinem vermeintlichen Verfolger – und wird so zum Opfer der Maschinerie, mit der er sein Geld verdient. Mancher Zuschauer fühlt sich hier vielleicht an Josef K. aus Kafkas „Der Prozess“ erinnert. Im Film wird der Verdächtige schliesslich aufgespürt und soll ins Gefängnis wandern – auch hier schnappt die Korruptions-Falle zu. Wenn Constantin im Büro des ermittelnden Beamten sitzt und dieser vorschlägt, man solle dem Verdächtigen Vergewaltigung vorwerfen, damit niemand das Urteil anfechten würde. Die Geschichte nimmt schlussendlich eine Wendung, mit der Constantin nicht gerechnet hat und die so sicher nicht geplant war. Dennoch nimmt er, scheinbar endlich befriedigt, sein normales Leben wieder auf.

„El Mudo“ zeichnet ein sehr schönes Sinnbild: Der Richter, der plötzlich stumm wird und sich auf korrupte Machenschaften einlässt – denn worüber nicht geredet wird, das existiert nicht. Der Film lässt einen nachdenken. Über das eigene Gerechtigkeitsempfinden und wie weit man selber bereit ist, für sein Vorhaben über den eigenen Schatten zu springen und sich auf etwas einzulassen, was man bis anhin ablehnte.

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