Von einem Elch gefickt werden

Die Veranstaltung
Was: Raststätte oder sie machen’s alle [wie Tiere]
Wo: Theater der Künste, Bühne B
Wann: 13.04.2012 bis 21.04.2012
Bereich: Theater
Der Autor
Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).
Von Tilman Hoffer, 16.4.2012
Das Stück «Raststätte oder sie machen’s alle» ist Elfriede Jelineks Abrechnung mit jenen Vorstellungen unserer Kultur, die das Begehren und das erotische Abenteuer noch immer dem Bereich der Leichtigkeit und des unschuldigen Vergnügens zuschlagen wollen. So war es etwa in «Cosi fan tutte», Mozarts romantischer Verwechslungsoper von vor gut zweihundert Jahren, die Jelinek als Folie dient (um zu wissen, was gemeint ist, genügt aber auch eine zeitgenössische Teenie-Komödie). Bei Jelinek dagegen ist nichts unschuldig, höchstens grotesk. Auf einer verkommenen Raststätte in der österreichischen Provinz haben sich zwei Freundinnen mittleren Alters zum anonymen Swinger-Sex verabredet – mit einem Elch und einem Bären («hat im Inserat gestanden»). Auch ansonsten sind sie eher leicht zu charakterisieren: latent frustriert, voll beladen mit Minderwertigkeitskomplexen und Neurosen, oversexed and underfucked.
Sich von einem Elch auf der Toilette ficken zu lassen, ist darum kein Spaß; es ist nicht weniger als die Suche nach Erlösung. Jedenfalls wenn man sich traut: «Wie soll ich das Tier in mir je kennenlernen, wenn ich schon vor fremden Tieren solche Angst habe.» Das Tier in sich kennenlernen – das ist natürlich eine reichlich ausgelutschte (he he) Metapher, aber genau darum geht es: so weit die Phantasie eben trägt. Jeder wie er kann. Die Beweggründe sind allerdings nachvollziehbar, denn ihre Ehemänner, die nichtsahnend auch dabei sind, sind alles in allem Fleisch gewordene Belege dafür, dass es auch mit dem heutigen Mann (und seinem verbissenen Beharren auf dem, was er für seine Männlichkeit hält) nicht gerade zum Besten steht.
Verqueres Begehren
Diese Typen treffen die Hauptdarsteller im Theater der Künste bereits beim ersten Auftritt voll auf die Zwölf. Irgendwo zwischen großkotzig und verklemmt sondern die beiden Männer ihre kultivierten Floskeln und ihre liberale Leistungsrhetorik ab; und die hysterische Fröhlichkeit der Frauen ist so schrill, dass man die darunter liegende Verzweiflung beinahe mit Händen greifen kann. Ebenso präsent ist das Begehren. Aber es ist ein verqueres, zwanghaftes, autistisches Begehren; daher die Notwendigkeit eines massiven verkopften Überbaus, entweder in Form von Macht (eher männlich) oder Selbstverwirklichung (eher weiblich), um überhaupt noch den Weg in oder auf einen anderen Körper zu finden.
Das ihrige tun auch Kostüme und Bühnenbild, letzteres als Nachbildung der Raststätte, in der die Zuschauer mitten im Raum um einen kleinen Mittelgang herumdrapiert werden. Überhaupt sind die Grenzen der Bühne fließend. Schon im Intro wird das Publikum von zwei Schauspielern aus dem Foyer geführt (unter wilden Deklamationen eines Jelinek-Textes über das Wesen des Theaters, von dem aber hauptsächlich der etwas summarische Eindruck hängenbleibt, dass Theater als solches wirklich eine ziemlich perverse Angelegenheit ist). Die Leute werden buchstäblich abgeholt, wo sie sind, und ihre Führer übertreten gewissermaßen symbolisch die dünne Grenze zwischen Außenwelt und Kunst.
Vollgas ohne Nuancen
Allerdings belässt es Regisseur Peter Kastenmüller nicht dabei – leider, wie man hinzufügen muss. Denn das durch choreographische Einlagen, eingefügte Passagen aus anderen Jelinek-Texten und eine Armada von Nebenschauspielern ohnehin schon leicht überfrachtete Treiben bekommt durch das Übertempo und das völlig überzogene Spiel der Schauspieler schnell einen Stich ins Alberne. Von Beginn an wird aus allen Rohren gefeuert. Der Text ist beim Zuhören nicht eben simpel, und man bekommt auch keine große Lust sich zu konzentrieren, wenn er mit solchem Hochdruck in den Raum gepumpt wird, dass alle Nuancen gnadenlos absaufen. Und berechtigerweise gibt es hin und wieder Zuschauerblicke, die ungefähr zu sagen scheinen: Jaja, ist gut, wir sind ganz bei euch – aber beruhigt euch doch erstmal. Aber keine Chance. Alles muss grell, schrill, laut sein, und zwar recht unabhängig von Text oder Handlung, Hauptsache mit vielen Verrenkungen. Gott sei Dank ohne Kunstblut.
Nun ist es durchaus berechtigt (und noch dazu sehr in Mode), gewissermaßen gegen den Text zu inszenieren. Ein solches Verfahren (Kenner dürfen an dieser Stelle «Dekonstruktion» murmeln) lebt jedoch vom Kontrast: je braver und unzeitgemäßer der Text, desto wirksamer. Doch Elfriede Jelineks über-artifizielles sprachliches sampling mit Versatzstücken aus Medizin-, Wirtschafts- und Pornodiskursen ist als solches schon ein Frontalangriff. Auch ihre Figuren haben keinerlei Fallhöhe, weil sie nicht die geringsten Anstalten machen, sich als Persönlichkeiten zu entwickeln, wie man früher sagte. Sie sind von vornherein als Denunziationen angelegt. So beschleicht einen das Gefühl, hier soll überhaupt nicht gegen oder für den Text gespielt werden, sondern der Text ist eher ein Vorwand, um sich mal richtig auszutoben. Es geht auch nicht um die gute alte Publikumsbeleidigung, dafür ist alles einfach zu sehr auf Amusement statt auf Schock getrimmt (wie gesagt, kein Kunstblut).
Publikumsausklammerung
Dafür entsteht eher Publikumsausklammerung: Durch den permanenten high drive und die Vernachlässigung der dramatischen Handlung verliert man langsam, aber sicher den Bezug zum Geschehen, das sowieso streckenweise einer Freakshow gleicht. Das exaltierte Gezappel wirkt deshalb oftmals wie, nun ja, Gezappel; ohne das Publikum wirklich mitzureißen, hängt es in der Luft (und das nicht nur, weil der Elch und der Bär zu Beginn an Stripteasestangen rumklettern).
Das zeigt vor allem am Ende der Show. Jelineks Stück hat nämlich durchaus einen Clou: Vom Kellner der Raststätte aufgeklärt, entschließen sich die beiden Ehemänner, heimlich mit dem Bären und dem Elch die Rollen zu tauschen und es ihren Frauen so richtig zu besorgen. Doch der bittere Witz, der auf ihre Demaskierung folgt (ihre sexuelle Unzulänglichkeit; die anhaltende Frustration der Frauen; und dann das happy end, weil alle merken, dass sie beim Sex gefilmt wurden – medialer Ruhm, quasi) bildet keinen dramatischen Höhepunkt. Zwischen den Gebäuden der Gessnerallee, wo man inzwischen steht, weil das Ende in einen halboffenen LKW verlagert wurde, springt auch beim brutalen Schlussmonolog aus dem Text «Über Tiere» der Funke nicht wirklich über. Irgendetwas geht da hoffnungslos zugrunde, das spürt man; aber man hat durch die vorherige Überfülle zu viel Distanz, um es zu erleben: das verstörende Ereignis, das Kunst sein kann.