Observatio II – Vom Nullpunkt

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Vom Nullpunkt
Wo: Zürcher Hochschule der Künste
Wann: 29.10.2012 bis 30.10.2012
Bereiche: Musik, Observer in Residence Ruth Schweikert

Observer in Residence

Die Schriftstellerin Ruth Schweikert besucht Veranstaltungen der ZHdK um schriftlich darüber zu reflektieren. Ihre Eindrücke als Observer-in-Residence sollen zur Diskussion beitragen und dabei disziplinenübergreifende Aspekte berücksichtigen.

Die Autorin

Ruth Schweikert: Geboren 1964, Schriftstellerin und Theaterautorin sowie Dozentin an der Hochschule der Künste Bern, lebt in Zürich.

Von Ruth Schweikert, 19.11.2012

Eindrücke des Symposion «Vom Nullpunkt?», Aufbruchs-Ereignisse in der Musikgeschichte zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart, am 29. und 30. Oktober 2012
an der Zürcher Hochschule der Künste

Womit beginnen?, das Dilemma des nachträglichen Aufschreibens führt mir vor Augen, was ich in den rund fünf Stunden Anwesenheit im Kleinen Saal der Florhofgasse 6 gehört, erfahren (gelernt?) und was ich dazu assoziiert habe.

Bichsels (glücklicher) Erfinder zum Beispiel zu Tucholskys Unglücksraben, der gleich zu Beginn der Tagung vorgestellt wurde, ein (jüdischer) Provinzmathematiker, Autodidakt, der ob der Tatsache verzweifelt, dass seine mathematische Entdeckung, die er in der Provinz quasi autonom gemacht hat – wenn auch nicht ganz voraussetzungslos, er besass und studierte irgendwelche (veralteten) Lehrbücher –, in der Hauptstadt bereits «Common Sense» ist. Der Mann kam zu spät, die Differentialrechnung hatten andere/hatte ein anderer vor ihm erfunden, und damit wohl auch den Ruhm (und den Reichtum?) abgeschöpft, der für eine solche Leistung zu haben ist. Der (von wem?, von sich?, der Welt?) enttäuschte Provinzmathematiker nimmt sich das Leben – welch dramatische Wendung, welch Pathos auch, ein geradezu künstlerisches, bin ich zu denken versucht. Und welch ein Unterschied zum Bichselschen Erfinder, ebenfalls ein Provinzler, der ein tolles Gerät erfindet, das Bilder aus weit entfernten Teilen der Welt hervorzaubert. In der Stadt angekommen, muss er einsehen, dass der Fernseher bereits von anderen erfunden wurde – für ihn indessen mitnichten ein Grund zur Verzweiflung, sondern bloss der Anlass, wieder nach Hause zu gehen, zurück in die Provinz, und seine Erfindung fortan für sich allein zu geniessen.

Erfindung oder Fortschritt, …

In Analogie zu seinem Erfinder hat Peter Bichsel hat die Arbeit der Schriftsteller formuliert: Sie erfinden das, was es schon gibt. Die Betonung liegt dabei natürlich auf dem Wort erfinden, die Schriftsteller bilden nicht ab, was es schon gibt, sie erfinden es, und genau darin liegt der kreative Akt, der vielleicht verwandt ist mit Kierkegaards Verständnis der Freiheit des Menschen: Die einzige Freiheit des Menschen, schreibt er sinngemäss, besteht darin, sich selber zu wählen; also nicht sich selber, sondern das Verhältnis zu sich selber zu gestalten.

Ist das ein Gegensatz zur Wissenschaft, die wie der Physiker Dissertori meinte, stets den Fortschritt, d.h. die Vermehrung, oder besser vielleicht die Präzisierung des Wissens über die (Natur)Phänomene im Visier hat? Die Modelle, meinte er vehement, sollten widerlegt werden – mit dem Ziel, ein noch genaueres Modell generieren zu können.

… Werk oder Leben

Das Pathos des perpetuierten Neubeginns, der steten Neuerfindung des schöpferischen Selbst, dieser Anspruch beseelte Arthur Rimbaud 1871, der in seinem und mit seinem Leben des Paradigmenwechsel einleitete, die Verschiebung des künstlerischen Impetus vom Werk auf das Leben; der Maler ohne Bild, der Komponist ohne eigene Musik, der Komponist, der (nur noch?) einen Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum schafft, in dem das Bestehende, der Strassenlärm, das Gerede, das Husten und Räuspern des Publikums erst zur Geltung kommen können.

Hier kommt der Zuschauer, die Hörerin erst so richtig ins Spiel, wird zum Partner, ja zur einzigen Instanz. Das Hören als innere aktive Selbsttätigkeit, die das Sprechen erst verursacht. Das radikal «antikünstlerische» Selbstverständnis eines John Cage: Die (seine) Musik darf nicht abhängen von Gedanken und Gefühlen des Komponisten, auch dies ein Nullpunkt, nicht ein Ausgangs- sondern eher ein Endpunkt, denke ich und frage mich, was eine solche Prämisse für das Lehren an einer Kunsthochschule bedeuten würde; aufgenommen würden nur noch Konzeptkünstler, ein diametraler Gegensatz zu allen Aufnahmepraktiken, die ich bisher kennen gelernt habe, wo stets das Unverwechselbare, das Eigene, ja die Authentizität eines werdenden Künstlers, einer werdenden Künstlerin gesucht wird, doch ist das wirklich ein Gegensatz?

Kann, könnte zum Beispiel gerade ein radikales «sich raushalten» eines werdenden Musikers ihn zu einer singulären Erscheinung machen? «Der Philosoph stellt die Welt in Frage, der Künstler sich selbst», formuliert Markus Lüpertz seinen Anspruch an die Kunst, die er deshalb über die Philosophie stellt, und ich erinnere mich an die letzte Tagung, die ich besucht habe, reART: The URBAN, und an die plötzliche Stille, die einsetzte, als Lukas Bärfuss mit seinem Text genau das tat: Er setzte sich aus, einer Erfahrung, der Erfahrung der Stadt, aber auch seinem Nicht-Wissen, er brachte ein Subjekt in Beziehung zur Welt der Erfahrung mit den Mitteln der Imagination, also der Erfindung. Genau das ist Kunst, dachte ich in diesem Moment, und genau das vermag nur sie: ein Drittes zu schaffen, ein gestaltetes Objekt, das sowohl den Künstler anschaut wie die Betrachter, die in diesem Moment am gleichen Ort sind, der Selbst- und Welterkenntnis ermöglicht.

Die Unterschiedlichkeiten werden nicht mehr hierarchisiert, erinnere ich mich an eines der Eingangsstatements zur Tagung, und so habe ich die fünf Stunden nicht mit mehr Klarheit, aber mit einer Fülle an visuellen, atmosphärischen und akustischen Eindrücken verlassen, mit einem Instrumentarium an Begrifflichkeiten auch, lauter Pro-vocationen, «Hinausrufungen» der einzelnen Referenten (die einzige Frau habe ich leider verpasst), die so hoffe ich, noch lange nachhallen werden.

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