Verjüngungskur

Die Veranstaltung
Was: Nonsense
Wo: Museum Strauhof
Wann: 21.03.2012 bis 03.06.2012
Bereich: Literatur
Die Autorin
Dania Sulzer: In Winti geboren, dort ausgegoren. Kulturinteressiert und sprachversiert. Die Uni liess ich hinter mir, die ZHdK ist nun mein Revier. Schreiben und gelesen werden, dafür würd ich - nein nicht gerade - sterben. Freude machen Stift und Blatt, ich bin ein kleiner Nimmersatt.
Die Kritik
Zu dieser Veranstaltung wurde eine weitere Kritik verfasst.
Lektorat: Stefan Schöbi.
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Mentorats zur spezialisierten Publikationspraxis im Master-Studiengang publizieren & vermitteln entstanden.
Von Dania Sulzer, 23.5.2012
«Who are you?», fragt bedächtig die blaue Raupe mit den rosa Händchen und bläst dazu Buchstaben aus ihrem Mund. Ein tiefer Zug aus der Pfeife und die bunten Rauchgebilde O, R, U zerpuffen an Alice’s Gesicht. Sie hustet.
Eine einfache Frage könnte man meinen. Doch die kleine Alice ist sich gar nicht mehr sicher, wer und wo sie ist. Während ihrer Reise ins Wunderland schrumpft das Mädchen mehrmals, wächst wieder und trifft absonderliche Gestalten, welche die ihr bekannten Logiken aushebeln und neu definieren. Kein Wunder ist sich das Kind über seine eigene Identität nicht mehr im Klaren. Eine befriedigende Antwort erhält die Raupe demnach keine.
Wir befinden uns mitten in der Wunderwelt von Alice, dem Mädchen, das sich nach einer Umgebung ohne Regeln sehnt und sich in einer Welt wiederfindet, in der 364 Tage lang Nicht-Geburtstag gefeiert wird, in der Katzen grinsen und Hutmacher mit der Zeit sprechen können.
Der Erfinder dieser verqueren, verdrehten Welt heisst Charles Lutwidge Dodgson, Mathematikdozent aus Oxford, besser bekannt unter seinem Pseudonym Lewis Carroll. Ihm widmet die Ausstellung «Nonsense – Spielarten einer merkwürdigen Literaturgattung» einen eigenen Raum, durch welchen man sich, passend zu seinem berühmtesten Werk, über einen Schachbrettboden bewegt und dessen Wände mit Spiegeln verkleidet sind.
Räume voller Entdeckungen
Die Ausstellung im Museum Strauhof widmet sich in sechs Räumen auf zwei Etagen verschiedenen Autoren der Literaturgattung «Nonsense». Der Name der sehr weit und teilweise diffus gefassten literarischen Strömung, stammt von Edward Lear, seines Zeichens Tiermaler und Verfasser des «Book of Nonsense». Er kann zusammen mit Carroll als Begründer dieser neuen Art, mit Sprache umzugehen, gelten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts schufen sie Welten, in denen die Realität plötzlich nicht mehr so funktionierte, wie man sie kannte. Durch eine grosse Portion Fantasie, durch Worte und Zeichnungen entstehen neue Wirklichkeiten. Ursprünglich als Kinderbücher konzipiert, halten die Geschichten auch für Erwachsene viel Denkstoff parat.
Die Ausstellung orientiert sich an den wichtigsten Vertretern der Nonsense-Literatur und widmet ihnen je einen Raum. Edward Lear wird in einem dunklen Zimmer vorgestellt, in welchem man Limericks aus seinem «Book of Nonsense» lesen und betrachten kann. Kritisch, witzig, anarchistisch – starke Zeilen, eben auch für Erwachsene. In der Retrospektive erscheint es als ein kluger Schachzug, diese absurden Gedichte über die idiotischen Taten Erwachsener als harmloses Kinderbuch zu verkaufen – in einer Zeit, in welcher es im strengen, viktorianischen England nicht viel zu lachen gab.
Im selben Raum stehen Hocker, auf welchen Kinderbücher liegen. Wie in jedem Raum der Ausstellung kann man rundherum viel Neues hören, drücken oder anschauen. Denn Nonsense funktioniert am besten in Kombinationen und mit Kompositionen aus Text, Bild und Ton. Das geht so: Durch Kopfhörer verschiedener Audiostationen liest der schottische Schauspieler Graham Valentine Texte auf Englisch und Deutsch. Der Schweizer Komponist Markus Schönholzer hat eigens für die verschiedenen Schwerpunkte der Ausstellung fünf neue Kompositionen geschaffen. So setzt man sich mal hier und mal dort hin, schaut mal hinten mal vorne um die Ecke, liest spiegelverkehrt, hört Lieder und Geschichten und schmunzelt. Die sanft beleuchteten Räume, ausgestattet mit bunten Röhren zum Draufsitzen und Reinschauen wecken den Spieltrieb. Man fühlt sich wohl und munter, wie früher im eigenen Kinderzimmer. Und man will nicht aufhören, immer neue Arten von Tieren oder Pflanzen kennenzulernen, von der gackeldottrigen Fetthenne über krebsrote Zwicknesseln bis zum durchwachsenen Stiefelklee.
Diese Freude der Autoren an absurden Kombinationen und unkonventionellen Ordnungssystemen zeigt sich im allen Räumen der Ausstellung. Man begegnet hier Nonsense-Botaniken und -Alphabeten, die ebenso kreativ wie amüsant gezeichnet und beschrieben werden. So zum Beispiel der Ochsenspatz, die Kamelente, die Turtelunke, der Giraffenigel. Christian Morgenstern ersann diese Fantasietiere und schrieb, ohne Carroll und Lear zu kennen, Ende des 19. Jahrhundert die «Galgenlieder».
Warum «sitzt das Wiesel auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel»? Auch auf diese Frage hat Morgenstern eine einfache Antwort: «Das raffinierte Tier» tat es nämlich um des Reimes Willen. Er verweist im Gedicht «das ästhetische Wiesel» auf die Künstlichkeit der Sprache. Sie ist nichts per se Natürliches sondern künstlich mit Bedeutung aufgeladen. Er stellt unsere Wahrnehmung und die Bedeutung der Welt in Frage, oft mit einfachsten Mitteln und Reimen. Deshalb wird auch Morgenstern ein eigener Ausstellungsraum gewidmet.
Wie spielt man eine Gemüsesuppe?
Im grössten Raum der Ausstellung wird ein Auszug aus dem Leben und Schaffen des Zürchers Kaspar Fischer gezeigt. Quer durch den Raum zieht sich eine halbierte Röhre, auf der Schnittkante klebt die Zeichnungsreihe «Metamorphosen I». Der Schauspieler, Autor und Zeichner skizziert aus einem Mann ein Kamel, lässt dieses zu einem Baum wachsen und zu Zwergen schrumpfen, um am Ende und nach etwa sieben Metern dieser «Metamorphose» wieder beim selben Mann zu enden: Präzise gezeichnete Tuschezeichnungen mit Verwandlungen, die nicht zufällig sondern absolut überzeugend wirken. Der Bogen zu Alice’s kontinuierlicher Metamorphose im Wunderland ist damit geschlagen. Auch hier wackeln Identitäten, zerfallen vorgegebene Formen zu Neuem.
In einer Ecke kann man sich einen Film ansehen. In diesem verkörpert Fischer auf groteske Art pantomimisch und lautmalerisch verschiedene Zutaten einer Gemüsesuppe. Er entwickelte eine neue, eigentlich undenkbare Art des Theaters, in welcher auch Gefühle, Gegenstände, ja sogar Gerüche dargestellt werden konnten.
Das ist es wohl, was die Faszination von Nonsense ausmacht. Dass das, was unmöglich und unlogisch scheint, hier gedacht und umgesetzt wird. Dass Dinge kombiniert werden, die eine andere Welt neben der real existierenden entstehen lassen.
Die Ausstellung eröffnet ein breites Spektrum solcher (un)möglichen Welten. Alle Sinne werden gefordert, die Fantasie angeregt. Denn es wird nicht eine Interpretation vorgegeben, sondern es werden – ganz im Sinne der Nonsense-Autoren – diverse Möglichkeiten von Interpretationen aufgezeigt. Die Entdeckungsreise, welche im 19. Jahrhundert beginnt, endet in der Gegenwart bei Kaspar Fischer. «Spielarten einer merkwürdigen Literaturgattung» lautet der Untertitel der Ausstellung. Passender ist das nicht auszudrücken: Bespielt wurden verschiedene Medien, zum Spielen eingeladen ist der Besucher. Man betrachtet Zeichnungen, liest Gedichte und hört Geschichten – und zwar merk-würdige.