Kurz und schmerzvoll

Die Veranstaltung
Was: Laila Soliman & Ruud Gielens: Liebesbrief / No Time for Art
Wo: Rote Fabrik, Backstein
Wann: 24.08.2012 bis 26.08.2012
Bereiche: Theater, Theater Spektakel 2012
Theater Spektakel
Kulturkritik ist Partner des Theaterspektakels 2012. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Der Autor
Gabriel Flückiger: Gabriel Flückiger (geb. 1988) studierte Kunstgeschichte und Ethnologie.
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Theater Spektakel (siehe Unabhängigkeit).
Von Gabriel Flückiger, 29.8.2012
Gerade dort, wo die Herstellungsbedingungen prekär und Infrastruktur sowie Ressourcen knapp sind, entsteht dringliches und relevantes Theater. Diese Beobachtung veranlasste die Verantwortlichen des Theater Spektakels, das Format der «Short Pieces» einzuführen. Das Doppelstück «Liebesbrief» und «No Time for Art» bestätigt die Notwendigkeit des neuen Aufführungsformats eindrücklich. Der Belgier Ruud Gielens und die Ägypterin Laila Soliman beziehen sich darin auf den ägyptischen Frühling von vor einem Jahr.
Erstickender Kampf
Der «Liebesbrief», Gielens’ Solo, ist an Soliman gerichtet. Jedenfalls spricht Gielens die Abschlussworte «Du fehlst mir» in Richtung der im Publikum sitzenden Regisseurin. Diesen Worte voraus geht eine dichte, ja erstickende Szene, die mit der typischen Assoziation eines träumerisch Verliebten freilich nahezu gar nichts gemein hat. Ein ägyptischer Wachsoldat, von Gielens verkörpert, kämpft vordergründig gegen die Revolutionäre, vor allem aber gegen sich selber. Er möchte weg von der «Angst, Mörder des eignen Volkes zu sein», weg von den Stimmen der gefangenen Frau nebenan.
Die Worte haben etwas Manisches und bekommen am Ende des Abends nachträglich noch mehr Bedeutung. Dann nämlich, wenn Videoaufnahmen des Kollektivs «Mosireen» zu sehen sind. Sie zeigen die brutale und willkürliche Gewalt der Militärs und der Polizei, blutüberströmte Körper, Menschen, die zusammenbrechen. Die Bilder erschüttern, machen wütig, jagen Tränen in die Augen. Umso plastischer erscheint jetzt die Paranoia des Wachsoldaten. Er meint sich verfolgt von den Fliegen im Raum. Und in ihren glänzenden Augen spiegle er sich. Klar ist: Die Hölle, das sind nicht die anderen, das ist er selbst. «Hörst du die Schüsse auch?» Mit bohrendem Blick fragt er Einzelne aus dem im Kreis angeordneten Publikum. Eine Tour-de-Force sondergleichen. Wir wollen da weg.
Solimans «No Time for Art» gibt sich nicht lockerer als Gielens’ «Liebsbrief». Das Publikum wird darin zum Ankläger. Die Regisseurin aus Kairo, die dort die Deutsche Schule besucht und an der American University of Cairo Theater und Arabische Literatur studiert hat, ist für ihre unzweideutige Haltung bekannt. Sie bezeichnet sich explizit als Teil des ägyptischen Widerstands und das Theater als Form ihres Protests. Die Revolution geht auf der Bühne weiter. Nicht dokumentarisch, eher agitatorisch und partizipativ. So lautete der Titel der letztjährigen Produktion (zusammen mit Ruud Gielens und weiteren Künstler-AktivistInnen) schon «Lessons in Revolting» (siehe die Kulturkritik dazu). Und heuer «No Time for Art»: Es geht auch diesmal nicht um Kunst, sondern um politische Handlung.
Die Revolution erlebbar machen
Eine Handlung, die wie folgt aussieht: Im Publikum werden Dokumente verteilt, es sind Todesanzeigen der Widerstandskämpfer. Jede/r Zuschauer/in leiht den Verstorbenen seine/ihre Stimme und fordert die Verantwortlichen zur Sühne auf. Das Mikrofon zirkuliert, andächtig werden die Worte gesprochen. Ein symbolisches Handeln im geschützten Bereich des Theaters. Ausserhalb des Bühnenraums hört es niemand.
Oder? «Mostafa Essam, Age 20, medical student and field doctor in Tahrir Square». Die gesprochenen Worte lösen Gedanken und Bilder aus, die einem nicht mehr loslassen, auch später, im Zug auf dem Heimweg, weiter beschäftigen. Wer war Mostafa? Wie sah er aus? Er war da, mitten in der Menschmasse, im Lärm der Geschosse und Hilfeschreie. Ein Medizinstudent noch in der Ausbildung, aber voll im Widerstandskampf. Wie viele sah er auf dem Tahrir-Platz sterben?
Gerade weil Gielens und Soliman keine Zeit für Kunst haben, sind ihre Short Pieces ungeheuer wertvolle Ankerpunkte des zeitgenössischen Theaterschaffens. Denn Realität und Imagination verschmelzen darin zu einer neuen Form des Erlebens. Alles wird unmittelbar, intim und echt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind nicht nur Publikum, sondern die Revolution wird Teil ihrer eigenen Erfahrungswelt. Ägypten ist hier. Eine schmerzvolle Erfahrung.