Abwarten und Tee trinken

Die Veranstaltung
Was: Kinder der Sonne
Wo: Schauspielhaus Zürich
Wann: 15.12.2012
Bereich: Theater
Die Autorin
Julia Stephan: (*1986) Seit 2006 Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Praktika bei der BAZ und der Aargauer Zeitung. Redaktionelle Mitarbeit beim Zürcher Germanistikmagazin Denkbilder und dem Blog \"Kritik4U\" des Theaters Gessnerallee. Teilzeitproduzentin bei der Aargauer Zeitung.
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Von Julia Stephan, 16.12.2012
Maxim Gorkis «Kinder der Sonne», derzeit am Schauspielhaus Zürich zu sehen, ist ein gewichtiger Klassiker der Moderne. Die kniffligen Figurenkonstellationen, die in der russischen Vorreformation verankert sind, mit Tagesaktualität anzureichern, stellt die Regie vor grosse Herausforderungen. Gerade dies gelingt in Zürich leider nicht – und dennoch mündet die originelle Inszenierung zuletzt in ein würdiges Schlussbild von eindrücklicher Schönheit.
Ein Bienenstock ohne Arbeiter, aber mit emsig durcheinander wuselndem Hofstaat. Bühnenbildnerin Claudia Kalinski konfrontiert den Zuschauer in der Inszenierung von Maxim Gorkis «Kinder der Sonne» im Zürcher Pfauen mit Wänden aus honiggelben Bienenwaben. Russland, 1892. Während draussen die Cholera tobt, erhalten wir intime Einblicke in die Welt des russischen Biochemikers Pawel Fjodorowitsch Protassow (Rainer Bock). Umgeben von seiner psychisch kranken Schwester Lisa (mit hängenden Schultern und rundem Rücken: Julia Kreusch), Ehefrau Jelena Nilolajewna (mit zur Schau getragener Gelassenheit: Friederike Wagner), ein- und ausgehenden Hausfreunden und einem Tross Bediensteter lebt er privilegiert und zurückgezogen. Sein Rückzugsgebiet: die Wissenschaft.
Mit deren Spielzeug – bunte Flüssigkeiten, Kolben, Laborgeräte und Bücher – sitzt Protassow in Daniela Löffners Inszenierung wie ein unmündiges Kind in den eigenen vier Wänden. Die Entwicklungen auf den Strassen berühren ihn nicht. Nur seine vernachlässigte Ehefrau Jelena (Friederike Wagner), die ihn glühend verehrende Witwe Melanija (Isabelle Menke) und die an ihn herangetragenen Tagespflichten reissen ihn ab und an aus der Umlaufbahn.
Daniela Löffner porträtiert in ihrer Inszenierung eine Handvoll neurotischer Egozentriker aus der russischen Oberschicht, die auf engstem Raum miteinander leben – und trotzdem keinen Draht zueinander finden: Vergeblich wirbt Tierarzt Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj um die kranke Lisa. Sean McDonagh gibt den eitlen Boris als hypernervösen Eigenbrötler, die verschlossen-verspannte Körperhaltung macht ihn zum Bühnen-Fremdkörper. Intimität will sich in diesem Bienenstaat auch anderswo nicht einstellen: Die reiche Witwe Melanija – Isabelle Menke macht aus ihr eine waghalsige Liebestolle, die dem Chemiker viel Honig um den Mund schmiert – dringt mit ihrem Liebesgeständnis nicht bis zu Protassov durch, als sie dessen Beine umklammert und ein verständnisloses «Entschuldigen Sie, so falle ich um» erntet. Dieweil vergnügt sich Ehefrau Jelena Nilolajewna (Friederike Wagner) halbherzig mit Kunstmaler Dimitrij Sergejewitsch Wagin (Nicolas Rosat). Jedes Gespräch wird in diesem Mikrokosmos unterbrochen. Keine Tür führt aus dieser Honigwelt hinaus.
Kollisionen mit komischen Folgen
Man langweilt sich aneinander und an sich selbst. Und trinkt Tee, wenn es nichts mehr zu reden gibt. Jeder ist sein eigener Planet. Löffner hat sich an der neurotischen Selbst-Bezogenheit von Gorkis Figuren abgearbeitet, mit grosser Sympathie für deren Charakterschwächen: Ihre Schauspieler stellt sie schutzlos wie frei schwebende Kometen auf die Bühne, wo sie in ihrer kleinen Welt seltsamen Beschäftigungen nachgehen. Franziska Machens manövriert als Hausmädchen Fima tollpatschig Silbertablette über die Bühne, sackt Bestechungsgelder und Heiratsanträge ein, und wirft pausenlos ihr Kopfhaar nach hinten, während die alte Kinderfrau Antonowna (resolut durchgreifend: Barbara Lotzmann) vergeblich den abwesenden Hausherrn zu ersetzen sucht.
Ab und an kreuzen sich die Umlaufbahnen der Figuren. Kollisionen führen selten zu Katastrophen, haben aber komische Folgen: Der umtriebige Geschäftsmann Mischa Awdejewitsch – Milian Zerzawy gibt ihn zeitgemäss als agilen Sportler und Trendsetter mit Sonnenbrille und weisser Trainingshose – trägt an Protassow gerissene Wirtschaftsdeals heran. Sie stossen bei diesem ebenso auf Unverständnis wie seine Ehekrise, die er zwischen Fachliteratur und Laborgeräten als irrationalen, lästigen Störfaktor wahrnimmt.
Honigsüsse Illusionen
Ihr grösster Coup ist Regisseurin Löffner mit der Bienenstock-Metapher gelungen: Eindringlinge werden in diesem Bienenstaat vehement abgewehrt. Nur selten verirrt sich ein Fremdling von aussen in die heile Welt und bringt das Bienenvolk in Unordnung. Etwa dann, wenn der gewalttägige Schlosser Jegor (Ludwig Boettger) über die Bühne tobt und seiner Frau an Leib und Leben geht.
Auf ideologischer Ebene hat Protassow die Angehörigen unter einer Vision vereint: Als «Kinder der Sonne» wolle man mit Hilfe der Ratio die Angst vor dem Tod überwinden. Mit pathetischen Gedichten und Reden über Menschlichkeit und Gemeinschaft feiern die Kinder der Sonne sich selbst. Dass jeder sein eigener Planet bleibt, und der Tod auch den Sonnenanbetern durch Mark und Bein geht, offenbart sich erst im zweiten Teil der Inszenierung. Als die Cholera das Haus erreicht, die wütende Stadtbevölkerung den Chemiker zur Verantwortung zieht, und der Tierarzt nach seinem abgewiesenen Heiratsantrag erhängt aufgefunden wird, beginnt sich die ungeschminkte Realität langsam hinter der honigsüssen Illusion abzuzeichnen – als greller Lichtschein hinter dem Bühnenbild. Bis auf die sensible Lisa lässt diese jedoch alle kalt: Das Hausmädchen Fima malt sich lieber ein Clownsgesicht und stellt das neue Modell für Maler Wagin, der sich nach seiner vergeblichen Eroberung von Ehefrau Jelena wieder in seine Kunst zurück zieht, während Protassow im Mikrokosmos «Chemie» wieder zu seinem inneren Frieden zurückfindet.
Egoismus und emotionale Kälte
Dieser Realitätsflucht wohnt eine bedrückende Tragik inne. Dass es Löffner nach zwei unterhaltsam-komischen Stunden gelingt, den Egoismus und die emotionale Kälte in dieser merkwürdigen Parallelgesellschaft spürbar werden zu lassen, ist die grosse Stärke dieser originellen Inszenierung. Sie mag den Zuschauer über einige etwas verunglückte Versuche, dem Stück einen tagesaktuellen Anstrich zu verpassen, hinwegsehen lassen. Das Schlussbild ist von berückender Schönheit: Die Sonne, ein Scheinwerfer hinter der Bühne, lässt die Honigwaben-Wände langsam zusammenschmelzen. Wir blicken in kaltes Licht – und erkennen die irre Realitätsflucht der vergangenen zweieinhalb Stunden.