So ehrlich, dass es schmerzt

Die Veranstaltung
Was: Jérôme Bel & Theater Hora: Disabled Theater
Wo: Theater Spektakel, Nord
Wann: 29.08.2012 bis 01.09.2012
Bereiche: Tanz, Theater Spektakel 2012
Theater Spektakel
Kulturkritik ist Partner des Theaterspektakels 2012. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Der Autor
Dominik Wolfinger: Dominik Wolfinger ist geboren und aufgewachsen im Fürstentum Liechtenstein. Nach der Sekundarschule schloss er eine Lehre als Chemielaborant ab. Seit 2010 studiert er an der Zürcher Hochschule der Künste Dramaturgie.
Die Kritik
Lektorat: Elena Ibello.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Theater Spektakel (siehe Unabhängigkeit).
Von Dominik Wolfinger, 30.8.2012
Jérôme Bel, Tänzer und Choreograf, ist bekannt für seine Werke, in welchen nichts kaschiert wird. Bel unterbindet jegliches Spiel und verlangt von seinen Schauspielern, dass diese stets unverblümt zeigen, wer sie sind. Keine Bühnenbilder schmücken die Bühnen und keine Kostüme werden getragen. Alles ehrlich, offen und direkt. Selbst die Meinung des Publikums interessiert den französischen Choreografen rein überhaupt nicht.
Bel möchte Fragen stellen und als Forscher unter einem künstlerischen Gewand Experimente betreiben. Allem voran beschäftigt Bel in jedem Stück die Frage: Wie funktioniert Theater?
In «Disabled Theater», Bels jüngstem Stück, welches mit Schauspielern des Theaters Hora inszeniert wurde, heisst die Frage wohl: Was passiert, wenn Jérôme Bel ein Stück mit geistig Behinderten inszeniert? Darauf die Antwort: Es entsteht ein Werk, das emotional überwältigt.
Simple Dramaturgie
Bevor die elf Schauspieler die leeren Stühle auf der Bühne füllen, nimmt die Assistentin und Übersetzerin ihren Platz ein. Sie wird durch den Abend führen und jeweils in Englisch und Schweizerdeutsch erklären, welche Aufgaben Bel an sein Ensemble gab. Auch hier wird nichts verheimlicht und alles ausgesprochen.
Nun soll zu Beginn jeder Spieler einzeln eine Minute vor das Publikum stehen. Nicht mehr, nicht weniger. Anschliessend werden Name, Alter und Beruf genannt und darauf folgt die Nennung der eigenen Behinderung. Entschlossen, selbstbewusst und natürlich erhebt sich jeweils einer der Spieler, um an das Mikrofon in der Bühnenmitte zu treten. Jeder scheint seinen eigenen Moment zu geniessen und in voller Präsenz ganz unverhohlen das zu sagen, was er oder sie sagen will. Es fallen Sätze wie «I am a fucking Mongo» oder «I have Down-Syndrom and I am sorry» und bringen das Publikum, welches soeben noch über die «drolligen» Behinderten gelacht hat, zum schweigen. Ein eigens choreografiertes Tanz-Solo folgt als Nächstes. Bevor die letzte Aufgabe gestellt wird («verbeugt euch vor dem Publikum») , erzählen die Performer, was sie von diesem Stück halten. Unzufriedenheit und Wertschätzung werden deutlich, sowie Verdruss und Missfallen vonseiten der eigenen Familienmitglieder.
Hohe Kunst oder Freakshow
Bels «Disabled Theater» geht auf einem schmalen Grat zwischen Darstellen und Blossstellen und ist deshalb gemäss Bels eigenen Worten «perfekt». Was man auf offener Strasse nicht angaffen sollte, wird ungeschminkt und zum Greifen nahe präsentiert. Kaum wäre es möglich, Behinderung offener zu thematisieren. Für die einen erniedrigend und beschämend, für die anderen pure Authentizität. Selbst die Grenze zwischen aus- und darüber lachen wird dünn. Klar ist, dass Bels Werk die Geister scheidet und Verachtung oder Verbundenheit, bestimmt aber Nichts dazwischen, weckt. Ob nun Sympathie oder Antipathie gegenüber dem Stück, was ihre Spieler hervorzurufen vermögen, ist Empathie auf eine derart unverfälschte Art und Weise, dass man es kaum ertragen kann. «Disabled Theater» drängt in Gefühlsecken, denn die ungekünstelte Gegenwart der Performer, ihre Einzigartigkeit, ihre ungebremste Energie und ihre hemmungslose Hingabe für den Moment auf der Bühne, ist eine unvergleichliche Erfahrung.