Glaskunst – mit Brüchen

Die Veranstaltung
Was: GLASklar? Schillernde Vielfalt eines Materials
Wo: Gewerbemuseum Winterthur
Wann: 03.12.2011 bis 28.05.2012
Bereich: Design
Die Autorin
Stefan Schöbi: Jahrgang 1977, Theaterwissenschaftler und Germanist, arbeitet als stv. Leiter Kommunikation und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste und ist Initiant des Kulturblogs kulturkritik.ch.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Von Stefan Schöbi, 8.1.2012
Das Gewerbemuseum Winterthur zeigt derzeit unter dem Titel «Glasklar» eine vielseitige Ausstellung zum Material Glas mit einem deutlichen Schwerpunkt auf seiner kunsthandwerklichen Verwendung. Der kulturgeschichtliche oder -technische Hintergrund wird gut dokumentiert, die Entwicklung der Verarbeitungstechnologien von Glas anschaulich erklärt. Weitere, etwas zufällig wirkende Kapitel gelten bautechnischen und industriellen Anwendungen von Glas. Was bei aller Vielfalt fehlt, ist der ordnende Blick der versprochenen Materialschau – und jener in künftige Anwendungen von Glas. Der Spagat zwischen Kunsthandwerk und Technologie ist dem Gewerbemuseum diesmal nicht ganz gelungen.
Kunsthandwerk zwischen Gebrauchtglas und Kunstobjekt
Kunsthandwerklich interessierte Besucherinnen und Besucher werden im letzten und grössten Ausstellungsraum des Gewerbemuseums eine grossartige Auslage von 125 Objekten finden: Flacons aus grünem Kristallglas, Trinkgläser in allen (nicht nur zweckmässigen) Ausprägungen, Teesets, Lampen und Vasen in mannigfaltiger Form und Ausprägung. Die Stücke stammen teilweise von bekannten Namen wie Wilhelm Wagenfeld, Adolf Loos oder Carlo Scarpa.
Die Objekte sind schwerpunktmässig im Zeitraum Dreissiger bis Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden. Auch ein Auftragswerk für das Gewerbemuseum, eine Ballonleuchte von Matteo Gonet, ist darunter. Vertreten sind insbesondere Pioniere des Gebrauchtglases, oft thüringischer Herkunft, daneben Skandinavisches Glas und Glaskunst aus Murano. Die in diesem Raum ausliegende, elf A4-Seiten umfassende Dokumentation ersetzt dabei die fehlenden Objekt-Legenden. Man hat den Eindruck, dass die Ausstellungsmacher Markus Rigert und Claudia Cattaneo besonders hier jene «schillernde Vielfalt eines Materials» auf den Besucher wirken lassen wollten, welche die Ausstellungstexte versprechen: «Glas fasziniert und bezaubert.»
Faszinierend ist bereits die amorphe Substanz von Glas: ein Festkörper, der aber nicht als kristallisierte, sondern als schnell gefrorene Flüssigkeit entstanden ist. Verschiedene Eigenschaften machen Glas zum idealen Werkstoff: Es ist lichtdurchlässig, wasserdicht und geruchsneutral. Und: die Rohstoffvorräte für die Herstellung von Glas sind schier unerschöpflich. Der Werkstoff begleitet daher die Zivilisationsgeschichte der Menschheit.
Glasauge oder Christbaumkugel
Der inhaltliche und zeitliche Bogen, den die Ausstellung «Glasklar» spannt, ist entsprechend weit. Der Besucher wird zuerst mit dem Grundprinzip der Glasproduktion vertraut gemacht und den zum Einsatz gelangenden Rohstoffen. Ein kurzes Einsprengsel mit wertvollen Exponaten gilt frühen Glasprodukten bis zum Barock.
Danach wird die Technologiegeschichte der Glasproduktion aufgerollt. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen zeichnet sie sich durch zwei entscheidende Innovationsschritte aus: der Erfindung des Ziehglasverfahrens (ab 1904), welches die Produktion von günstigem Flachglas ermöglichte, das allerdings noch stark gewellt und optisch unruhig war, und der Einführung des Floatglasverfahrens (ab 1960), durch das planparalleles und optisch ideales Glas zu noch günstigerem Preis gegossen werden kann.
Zukunft als Technologieträger
Achzig Prozent der Anwendungen von Glas sind heute architektonische Floatglas-Anwendungen. Und unsere Zukunft wird noch gläserner, glaubt man der Branche. Der amerikanische Displayglas-Hersteller Corning veröffentlicht im Februar 2011 seine gläserene Vision unseres Alltags in Form eines Youtube-Videos «A Day Made of Glass», mittlerweile über 16 Millionen Mal abgespielt. Demnach werden sich unsere Wohnungen bald in ästhetische und funktionale Displaywelten verwandeln: Glas als «Smart Material». Unsichtbar ist dagegen das Glasfasernetz, welches die Haushalte der Stadt Zürich bald verbinden wird. Auch in der Computer-Schnittstelle «Thunderbolt», zu deutsch «Blitzschlag», sollten Lichtleiter zur Übertragung des Signals zum Einsatz kommen (bisher stecken in den Kabeln allerdings weiterhin Kupferleiter – aus Kostengründen).
Das Material Glas entwickelt sich zunehmend zum Technologieträger und zum funktionalen, ästhetischen oder technologischen Baustoff. Diese Perspektive wird vom Gewerbemuseum Winterthur, das Gebrauchsgegenstände mit künstlerischem Anspruch im Visier (und in der Sammlung) hat, nur am Rande verfolgt. Beide Stossrichtungen, die kunsthandwerkliche und die technologische, gar zu einer umfassenden Materialschau zu verbinden, ist eine Aufgabe, die im beschränkten Raumangebot des Gewerbemuseums Winterthur nicht befriedigend gelingen kann.
Entsprechend mutet der mittlere Teil der Ausstellung etwas beliebig an. Er greift zwei Schauplätze heraus und stellt uns die handwerkliche Glasproduktion einer Dorfglashütte im Thüringer Wald und die industrielle Glasproduktion der Kleinstadt Jena vor. Die Exponate ihrerseits sind vielgestaltig und ja, sie faszinieren: Glasaugen und Christbaumkugeln, Linsen und Brillengläser, gläserne Insekten- oder Korallenmodelle, Thermosflaschen und pharmazeutische Glasprodukte schreiben die glitzernde und facettenreiche Glasgeschichte des 20. Jahrhunderts. Den Anwendungen im Baugewerbe ist eine gesonderte Wand gewidmet. Zuletzt folgen einige Stationen, bei welchen der Besucher anfassen und experimentieren darf: Lichtbrechungen und Polarisation können experimentell nachvollzogen, Lichtleiter spielerisch unterbrochen oder Glastextilien befühlt werden. Ein Hauch von Technikmuseum kommt auf, wir nähern uns der Gegenwart.
Chronologischer und inszenatorischer Bruch
Der Übergang in den nächsten und grössten Raum setzt dieser Tendenz ein abruptes Ende: Der Ausstellungsbereich «Glas in Kunst und Design» verengt den Blick wieder auf Gebrauchsgegenstände mit künstlerischem Anspruch. Dieser chronologische und inszenatorische Bruch lässt den Besucher mit seinem bis hier erarbeiteten Wissen allein; einen logischen Anschluss bildet die Fortsetzung nicht.
«Glasklar» ist eine fundierte kunsthandwerkliche Ausstellung. Das Rahmenprogramm verwandelt das Museum mal zur Glasbläserwerkstatt, mal zum Konzertsaal für – selbstverständlich gläserne – Perkussionsinstrumente. Dem Anspruch, die Querschnittperspektive einer Materialschau zu eröffnen, wie die Informationstexte wiederholt versprechen, wird die Ausstellung aber nicht gerecht. Dafür ist das Feld zu weit und der vorhandene Platz zu gering, dafür sind die Exponate zu einseitig gewählt und geht der Blick doch nur punktuell über den kunstgewerblichen Tellerrand hinaus. Glasklar ist aber eines: Das Thema hat Potenzial und die Winterthurer Ausstellung macht Appetit auf mehr.