Vergangene Zeit atmen

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Geschichten, wie sie nur Gebrauchtes erzählen kann
Wo: Brockenhaus Zürich
Wann: 19.11.2012 bis 31.12.2012
Bereiche: Bildende Kunst, Literatur, Performance

Die Autorin

Nina Pulfer: Nina Pulfer (geb. 1980) studiert im Master Islamwissenschaft und Persisch.

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.
Dieser Beitrag wurde durch eine Patenschaft ermöglicht. Herzlichen Dank (siehe Unabhängigkeit).

Von Nina Pulfer, 21.11.2012

Auf der Tribüne steht ein speckiger Sessel aus abgegriffenem, braunem Leder, schwer und unbeirrbar, und strahlt die Gewichtigkeit von Zeit aus. Was hat sich an und in ihm über die letzten Jahrzehnte an Geschichten versammelt? Was kann er erzählen über das Früher und das Jetzt, ja vielleicht überhaupt über das Fortschreiten der Zeit und das sich Entfalten des Menschen in ihr?

Dreizehn namhafte Autorinnen und Autoren aus dem deutschen Sprachraum liessen sich von einem oder mehreren Objekten des Zürcher Brockenhauses zu Kurzgeschichten inspirieren, die in Form einer Audiotour durch alle Etagen des Hauses zu erleben sind. Dabei geht es um ein Erfahren auf mehreren Ebenen, denn «strecken Auge und Ohr ihre Fühler gemeinsam aus, so animieren sie das Innere des Menschen». Es geht also nicht zuletzt darum, auch in sich selbst die (Ge-)Schichten der Zeit zu betrachten. Dass dies in der Brockenhaus Ausstellung auf beschwingt-leichte Weise und mit Witz geschehen kann, ist erfreulich.

Ungewöhnliche Vernissage in ungewohnter Umgebung

Montag Abend, kurz nach Ladenschluss: die ersten Besucher und Besucherinnen des Eröffnungsabends treffen ein. Die Vorbereitungen sind noch in vollem Gange, Kerzen werden angezündet, man wird aufgefordert, es sich auf einem der zum Verkauf ausgestellten Sofas bequem zu machen. Gedämpftes Licht, leicht scherbelnde Musik — ein einladendes Setting, um sich auf das Atmosphärische gebrauchter Gegenstände einzulassen.

Knapp zwei Stunden später: Sechs der dreizehn Autoren und Autorinnen haben ihre Kurzgeschichte vorgetragen. Mal wurde herzlich gelacht, mal leise geschmunzelt. Es herrschte heitere Stimmung. Nach jeweils nur zwei Geschichten gab es eine Pause. Das war im Verhältnis zu den teilweise sehr kurzen Texten zu viel und schade, weil die aufgebaute Spannung abflachte und der Lesung der grosse Bogen fehlte. Im Ganzen gesehen aber war es ein sehr vergnüglicher Abend — und er weckte die Lust auf die Audiotour.

Ausstellung mit Verkaufsobjekten

Am nächsten Tag also zurück ins Brockenhaus. An der Kasse beziehe ich ein kleines Audiogerät sowie den Etagenplan. Ein Teil der Objekte wird in Glaskästen ausgestellt, andere stehen an ihrem gewohnten Verkaufsplatz und sind kaum als Ausstellungsobjekte zu erkennen. Es wird klar: hier werden nicht Geschichten über das aussergewöhnlich Schöne und Wertvolle erzählt, sondern Geschichten über das Alltägliche. Ich setze mich in Bewegung und werde so Teil eines sich ständig in Veränderung begriffenen Ortes — eines Ortes, an dem die Fäden von Zeiten und Menschen zusammenlaufen.

Und was für Fäden werden in der Handvoll Geschichten gesponnen, aus denen die Audiotour besteht? Es sind sehr eigene, persönliche Zugänge, welche eröffnet werden. Ein kurzer Überblick: Von der Magie, welche die unbekannte Biographie eines Gegenstandes ausstrahlt, erzählen etwa Silvio Huonders «Die Reitstiefel» und Linus Reichlins «Die Geige». Ein Weihnachtsmärchen, das von Versöhnung und List handelt und durch seinen feinen Humor besticht, schrieb Thomas Hürlimann mit «Die Wasserwaage». In «Der Hut» spricht Annette Mingels vom Ernst und der Phantasielosigkeit unseres Alltags und den Möglichkeiten, diese zu durchbrechen. Warum nicht mit rosa Hut und getupftem Kleid in andere Identitäten, Zeiten, Leben schlüpfen und damit dem Alltag ein bisschen Poesie abringen? So ergeht es auch der Protagonistin von Franz Hohlers «Der Schrank», als ihr eintöniger Alltag plötzlich durchbrochen und sie unvermittelt mit einer Gefühlsregung konfrontiert wird. Tim Krohn würdigt mit «Die Kaffeebüchse» einen wertlos gewordenen Gegenstand, eine «Spur des Zerfalls, den heute niemand mehr will». Ilma Rakusa beschreibt in «Das Rechenbrett» einen Gebrauchsartikel als Teil des menschlichen Selbst.

Einige Autorinnen und Autoren (Stephan Pörtner: «Der Sessel», Beat Sterchi: «D‘Lampe», Ruth Schweikert: «Der Föhn und das Kostüm», Roger Graf «Die Kinderschnecke») sprechen über das Symbolhafte von Objekten und wie diese zu Sinnbildern für getroffene Entscheidungen und verpasste Chancen, zu stummen Zeugen intimer Momente und unabdingbaren Voraussetzungen werden. Das kann lustig werden, so beispielsweise, wenn Isolde Schaad in «Das Standtelefon» mit erfrischend-ehrlich helvetischem Akzent den abenteuerlichen Weg eines weissen Telefons nachzeichnet. Mit Fabulierlust und Phantasie verknüpft sie meisterhaft Pop-Art und schweizer Lokalkolorit. Und dann erzählt da noch Gion Mathias Cavelty in einer ziemlich abstrus-gruseligen Geschichte («Der Spiegel»), warum man es sich gut überlegen sollte, bevor man sich auf einen gebrauchten Gegenstand einlässt.

Nachdenklich und beschwingt

Dies sind die Fäden, welche das Brockenhaus in seiner Audiotour verwoben hat. Sie lassen einen nicht kalt, sondern schaffen vielfältige Anknüpfungspunkte an persönliche Erinnerungen. Wer kennt es nicht, das freudig-nervöse Gefühl, wenn man einen längst vergessen geglaubten Gegenstand seiner Kindheit plötzlich wieder in Händen hält. Was ist es, das uns in dem Moment berührt? Vielleicht, dass Zeit plötzlich und unmittelbar erlebbar wird? Dass das Ich von damals und das jetzige Ich für einen Augenblick verbunden sind? Ich verlasse die Ausstellung in vergnügter Stimmung — und das, obwohl hier über elementare Fragen des Lebens nachgedacht wird. Vieles in den Texten ist Andeutung und nur zwischen den Zeilen zu lesen. Es sind leise, unaufgeregte Töne, die hier angeschlagen werden. Und doch — oder gerade deshalb — rührten sie an etwas in meinem Inneren.

Obwohl nicht jede Geschichte überzeugt und in sich schlüssig ist, bilden sie gemeinsam mit den Gegenständen und als Audiotour ein harmonisches Ganzes. Am interessantesten sind diejenigen Kurzgeschichten, die in Form einer mit Leichtigkeit skizzierten Alltagsbeobachtung, eines Märchens oder einer augenzwinkernden Phantasie daherkommen.

Bei meinem Besuch war ich als einzige auf der Audiotour unterwegs. Schade, weist das Personal nicht aktiv auf die Ausstellung hin. Viele Menschen, die im Brockenhaus einkaufen, besuchen selten Ausstellungen. Wenn nun gebrauchte Alltagsgegenstände Thema einer Ausstellung sind, sollte diese auch so verkauft werden, dass Kulturgenuss zum Alltag für jede und jeden wird.

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