Fluch und Segen der Wahlmöglichkeiten

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Entscheiden. Eine Ausstellung über das Leben im Supermarkt der Möglichkeiten
Wo: Stapferhaus Lenzburg
Wann: 15.09.2012 bis 30.06.2013
Bereich: Gesellschaft

Die Autorin

Elena Ibello: 1982 geboren, seit 2003 freie Journalistin. Im Master-Studium Art Education, publizieren&vermitteln, an der ZHdK.

Die Kritik

Zu dieser Veranstaltung wurde eine weitere Kritik verfasst.
Lektorat: Tilman Hoffer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Stapferhaus Lenzburg (siehe Unabhängigkeit).

Von Elena Ibello, 23.11.2012

«Ich war vollkommen verloren im Dschungel der Möglichkeiten», sagt die 37-jährige Anna. Nachdem sie tausend Dinge ausprobiert hatte, ihre vielen Interessen zum Zug kommen lassen wollte und verschiedene Berufe ausgeübt hatte, schaffte sie es eines Morgens nicht mehr aus dem Bett. «Die kleinsten Entscheidungen wurden unmöglich», sagt sie. Was essen, was anziehen? An solchen Fragen verzweifelte Anna. Sie entschied sich dann doch für etwas: für einen Klinikaufenthalt. Seither geht es ihr besser.

Anna erzählt ihre Geschichte direkt in mein Ohr, während ich auf einer Krankenliege im Zeughaus Lenzburg liege, wo zurzeit die Ausstellung «Entscheiden» des Stapferhaus Lenzburg stattfindet. Der Untertitel: «Eine Ausstellung über das Leben im Supermarkt der Möglichkeiten.»

Die grosse Liebe und die Sache mit der Realität

Die Unendlichkeit der Möglichkeiten, die uns gegenwärtig offenstehen, die Variationen von möglichen Lebensentwürfen, die Optionen in der Berufswahl und Karriereplanung, die freie Wahl einer Ideologie, einer Wohnform, eines Partnerschaftsmodells sie können sicher als grosse Befreiung gesehen werden. Als wichtige Entwicklung hin zu einer freiheitlichen Gesellschaft, in der die Menschen ihr Leben selber in die Hand nehmen können.

Sie sind aber auch nicht selten eine schlichte Überforderung. Die grosse Auswahl macht Menschen krank. Anna ist nicht die einzige, die an der «Alles-ist-möglich-die-Welt-steht-dir-offen-Stimmung» unserer Gesellschaft fast zerbrochen wäre. Depressionen und ähnliche psychische Erkrankungen sind nicht selten darauf zurückzuführen, dass der Mensch heute ständig irgendwelche Entscheidungen fällen muss. Der Sozialpsychologe Roy Baumeister hat ein neueres Krankheitsbild benannt: «Decision Fatigue».

Supermarkt – vor allem akustisch

Das Stapferhaus Lenzburg hat mit der Wahl des Themas «Entscheiden» den Nerv der Zeit getroffen. Über drei Stockwerke im Zeughaus werden verschiedene Aspekte ausgeleuchtet. Im «Supermarkt» dieser Ausstellung geht es beispielsweise um die Partnerwahl. Aus Infografiken über zahlreiche Statistiken erfährt man, wie weit Wünsche zuweilen von der Realität entfernt sind. Rund die Hälfte aller Ehen wird geschieden, das ist nichts Neues. Es ändert aber nichts daran, dass über 80 Prozent aller Jugendlichen an die grosse, ewige Liebe glauben. Haben sich die 50 Prozent Geschiedenen bei der Partnerwahl einfach falsch entschieden? Nach welchen Kriterien wählt man sich einen Partner aus – und wählt man überhaupt oder läuft man der Liebe nicht vielmehr zufällig über den Weg?

Als Kontrast zur trockenen Statistik gibt es spannende Einblicke in die Leben von Einzelpersonen. Über Kopfhörer kann man Männern und Frauen unterschiedlichen Alters zuhören, wie sie erzählen, mit wem sie zusammen sind oder waren, warum die Beziehung funktioniert oder warum sie gescheitert ist.

Informations- neben Unterhaltungswert

Überhaupt sind Hörstationen ein häufiges Medium in dieser Ausstellung. Langweilig wird das aber nicht, denn die Hörsituationen sind sehr unterschiedlich. So sitzt man beispielsweise einmal in einer Umkleidekabine vor dem eigenen Spiegelbild, während aus einem Lautsprecher eine Glosse von Peter Schneider zum Thema zu hören ist, die mehr Unterhaltungs- als Informationswert hat. Aber auch das darf sein in einer Ausstellung zu einem ernsthaften Thema. Oder man liegt – in der eingangs erwähnten Installation – wie beim Doktor auf einer Krankenliege, aus deren Kopfteil eine Stimme ertönt. Doch auch ganz klassisch mit Kopfhörer und Sitzgelegenheit kann man beispielsweise dem Psychologen Prof. Dr. Gerd Gigerenzer zuhören, wie er sagt: «Intuitive Entscheidungen sind die besten.»

Andere Themen, wie die politische Partizipation der Bevölkerung oder die persönlichen Strategien wichtiger Entscheidungsträger in der Schweiz, werden über verschiedene Video-Interviews besprochen. Hinzu kommen noch einige Darstellungsformen, die eine Aktion der Besuchenden verlangen. Zum Beispiel ein «Glücksrad», das deutlich macht, dass nicht alle Menschen tatsächlich eine so grosse Auswahl zur Verfügung haben, wie wir sie hierzulande kennen. Das Thema «Entscheiden» trifft viele Menschen mit der Problematik am ganz anderen Ende der Skala: nicht entscheiden zu können, weil keine Entscheidungsmöglichkeiten vorhanden sind.

Wer hält das Steuer in der Hand?

Wo auf dieser Welt wir leben, welche Herkunft und welches Geschlecht wir haben, entscheidet wesentlich mit. Alles haben wir nicht in der Hand. Dies trifft auf benachteiligte Menschen in besonderem Masse zu. Die Ausstellung spricht also an, dass der Supermarkt der Möglichkeiten nicht für alle zugänglich ist. Es hätte aber dazu auch noch ein oder zwei Inputs mehr vertragen. Wie beeinflusst das Vorhandensein oder das Fehlen von Wahlmöglichkeiten die Lebensqualität der Menschen? Wie leben jene, die noch nie die Wahl hatten und sie nie haben werden? Wer sind sie? Und wie denken sie über jene, die die Wahl haben, wenn sie zum Nachdenken darüber überhaupt die Möglichkeit haben?

Ein bisschen zu kurz kommt auch die Frage nach dem freien Willen. Die Ausstellung setzt scheinbar voraus, dass wir alle über ihn verfügen. Diese Ausgangslage in Frage zu stellen, wäre sicher spannend gewesen.

Wo der Supermarkt aufhört

Ganz allein gelassen wird man mit weiterführenden Fragen aber nicht. Das Magazin zur Ausstellung vertieft in vielfältigen Texten und Bildern die Grenzen der Möglichkeiten ebenso wie die Grenzen der Einflussnahme durch jeden Einzelnen. Der oberste Stock im Zeughaus zeigt, dass das Leben einem auch «zustossen» kann. Wie sagen wir oft nach einer unerwarteten Wendung der Dinge, wenn unsere Pläne am Ende doch nicht aufgehen? «Das Leben ist mir dazwischengekommen.»

Niemand entscheidet sich aus eigenem Willen für eine schwere Krankheit, für einen Unfall, für den frühzeitigen Tod. Und doch passieren diese Dinge. Ungefragt, unerwartet. Der Bereich «Zufall und Schicksal» in der Ausstellung zeigt dies mit drei eindrücklichen Geschichten.

So verlasse ich die Ausstellung wohl um eine Illusion erleichtert, dem vermeintlichen Glauben nämlich, mein Leben liege in meiner eigenen Hand. Und auch sonst wirkt das jüngste Produkt des Stapferhauses Lenzburg anregend, wie sich zeigt. Noch Tage nach dem Ausstellungsbesuch denke ich darüber nach, welche Möglichkeiten wir haben, wie und warum wir uns entscheiden, welche Verantwortung wir dabei tragen und wie bewusst wir diese wahrnehmen.

Ich frage mich, ob wir vielleicht oft nur meinen, selber zu entscheiden, während wir in Wirklichkeit beeinflusst sind oder ob manchmal andere über uns entscheiden, ohne dass wir es als Fremdbestimmung wahrnehmen.

Wie weit haben wir unser Leben in den eigenen Händen? Dass die Ausstellung selbst viele dieser Fragen wenig vertieft, stört mich nicht. Sie bleibt bei den Erfahrungen aus einem «durchschnittlichen» Leben und erzählt seine scheinbar simplen Geschichten, die uns im Alltag vielleicht entgangen sind, anstatt eine hochphilosophische Abhandlung zu versuchen. So spricht sie ein breites Publikum auf einer sinnlichen Ebene an – und regt diejenigen, die sich vertieft mit dem Thema auseinandersetzen wollen, dazu an, es zu tun.

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