Landleben zwischen Hass und Liebe, Leben und Tod

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Die drei Leben der Lucie Cabrol
Wo: Theater am Gleis, Winterthur
Wann: 06.12.2012 bis 07.12.2012
Bereich: Theater

Die Autorin

Elena Ibello: 1982 geboren, seit 2003 freie Journalistin. Im Master-Studium Art Education, publizieren&vermitteln, an der ZHdK.

Die Kritik

Lektorat: Moritz Weber.

Von Elena Ibello, 7.12.2012

«Diese Schwester hat nichts als Schande über unsere Familie gebracht!» Emile sagt das immer und immer wieder. Seine Schwester heisst Lucie Cabrol, ist kleinwüchsig und irgendwie aussergewöhnlich. Zumindest glauben das alle, und sie selber auch irgendwann. «Cocadrille» wird sie genannt, weil Emile behauptet, sie könne mit ihren Blicken töten. Und trotz all den schauerlichen Attributen, die der Lucie nachgesagt werden, wird auch am Ende des über zweistündigen Stücks nicht ganz klar, was an Lucie so verachtenswert ist, dass sie den Hass aller auf sich zieht und am Ende ganz aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen wird.

«Die drei Leben der Lucie Cabrol» spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer ländlichen Berggegend und erzählt die Geschichte einer stigmatisierten Frau, die aus ihrer hexenartigen Rolle ihr ganzes Leben lang nicht herausfindet – zumindest nicht, solange sich ihr Leben im Diesseits ereignet. Lucie wird gehasst, von ihren Brüdern ebenso wie von anderen Dorfbewohnern. Nur ihre Eltern vermögen ihr ein wenig Liebe zu schenken und als diese sterben, ist Lucie endgültig allein und zuhause der Feindseligkeit ihrer Brüder ausgeliefert. Dabei ist es ihr innigster Wunsch, geliebt zu werden. Obwohl Lucie, eindrücklich gespielt von Rachel Matter, im Stück nie laut jammert oder klagt über die grausame Ausgrenzung, die sie seit ihrer Geburt erlebt, ist ihr Wunsch nach Akzeptanz und Liebe omnipräsent. Trotz allen Widrigkeiten und Widerwärtigkeiten in ihrem Leben legt sie eine Willensstärke an den Tag, die ihre Brüder und Dorfgenossen in ihrer ganzen Feigheit und Schwäche, die sich hinter der Machtdemonstration und aggressiven Ausgrenzung verstecken, entlarvt.

Nur Jean, ein Bursche aus dem Dorf, wird Lucie zu so etwas Ähnlichem wie einem Freund. Von ihm fühlt sie sich verstanden, wie von niemandem sonst. Aber auch er schliesst sich der Mehrheit an, distanziert sich von Lucie und in den langen 40 Jahren, in denen sich die beiden nicht begegnen, wächst sein Hass gegen sie. Aber was ist eigentlich Hass?

Starke Darsteller

Das Theater Ariane hat aus John Bergers Erzählung «Die drei Leben der Lucie Cabrol» ein unglaublich energisches und temperamentvolles Stück gemacht. So behäbig die dargestellte ländliche Welt auch ist, das Ensemble des Theaters Ariane vermittelt die harten Gesetze dieser Welt kraftvoll und mit grosser Körperarbeit. Die Inszenierung von Jordi Vilardaga lebt wesentlich vom ungeheuren Körpereinsatz der Darstellenden und sie nimmt die karge Sprache John Bergers gekonnt auf, in der die Aufrichtigkeit ebenso wie die Hartherzigkeit des Bauernlebens zum Ausdruck kommen. Eine besonders starke Leistung zeigt Rachel Matter in der Hauptrolle. Trotz ihrer leibhaftigen Körpergrösse, die so nicht zur kleinwüchsigen Lucie passen will, schafft sie es, das Andersartige und Eigenwillige dieser Figur so darzustellen, dass man ihre echte Körpergrösse vergisst. Keine Sekunde steht Lucie still, immer ist sie hellwach und in Bewegung, und obwohl äusserlich keine Veränderungen vorgenommen werden, nimmt man der 40-jährigen Matter das kleine Kind ebenso ab wie die alte Frau. Denn das Stück erstreckt sich über die gesamte Zeitspanne von Lucies Leben, oder besser: Ihrer drei Leben.

Lucies zweites Leben spielt sich abseits der Dorfgemeinschaft ab, wo sie alleine leben muss. Ihr unzerstörbarer Trieb zu überleben rührt scheinbar vom Wunsch her, den den Leuten zu beweisen, dass sie es kann. Ein Wiedersehen mit Jean veranlasst sie im hohen Alter zu einem mutigen Schritt, um sich ihren lebenslangen Wunsch zu erfüllen. Doch dazu kommt es nicht mehr in ihrem irdischen Leben; Lucie wird Opfer einer Gewalttat, die lediglich der Gipfel aller Gewalt darstellt, die sie ihr ganzes Leben über erleiden musste.

Menschlichkeit unter den Toten

Doch auch mit den Toten lässt es sich leben. Oder vielmehr: Mit den Toten lässt es sich erst wirklich leben. Denn unter ihnen findet sich Lucie schnell zurecht. Was sie im Diesseits nie wirklich erleben durfte, erfährt sie endlich in ihrem dritten Leben im Jenseits: Menschlichkeit. Und so erfüllt sich ihr lange gehegter Wunsch in dieser anderen, humanen Welt.

«Die drei Leben der Lucie Cabrol» vom Theater Ariane dauert mehr als zwei Stunden. Es ist nicht einfach, diese vielschichtige, verworrene Geschichte, die durch eine sehr lange Epoche mit zwei Weltkriegen zu mäandrieren scheint, nachzuerzählen. Aber der Rote Faden geht in diesem Stück nie ganz verloren. Immer wieder kommt die Erzählung auf ihren Kern zurück und führt das Publikum dezent durch Lucies Leben. Eine wunderbare Kombination von linearer Schilderung, die Orientierung gibt, und modernem Theater, das in der Zuschauerin mehr auslösen kann als die simple Wiedergabe einer Erzählung.

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