Sichtbar gewordener Zweifel

Die Veranstaltung

Was: Winter - von Jon Fosse
Wo: Theater der Künste, Bühne B
Wann: 02.02.2011 bis 11.02.2011
Bereich: Theater

Der Autor

Lukas Meyer: Jahrgang 1983, studierte Philosophie, Geschichte und Literatur und arbeitet als freier Journalist und Texter in Zürich.

Die Kritik

Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Lukas Meyer, 5.2.2011

„Der Schnee ist das sichtbar gewordene Schweigen“ – so wird der Schweizer Philosoph Max Picard im Programmheft zitiert. Ob Jon Fosse sich von diesem Diktum für sein Stück „Winter“ inspirieren liess, ist ungewiss, doch passt es sehr gut. Dieses karge Bühnenwerk mit nur zwei Personen hat sich Irene Mattioli, Studentin der Theaterregie an der ZHdK, für ihr Masterprojekt vorgenommen. Sie konnte damit ein zahlreiches Publikum zur Premiere ins Theater der Künste locken.

Zufall und Notwendigkeit

Auf der Bühne sind zwei riesige Stapel aufgeschichtet: einer mit Parkbänken und einer mit Bettgestellen. Die zwei Orte des Stücks, eine Bank auf der Strasse und ein Hotelzimmer, werden so sehr schön veranschaulicht. Auf der einzig normal gestellten Bank sitzt etwas verloren der Mann, mit Anzug und Krawatte – ein Geschäftsmann, der auf einen Termin in der Nähe wartet. Doch dann kommt das Schicksal in Form der Frau dazwischen, aufgemacht als freche Edelprostituierte. Der Mann will gehen, als sie ihn anspricht, bleibt dann aber doch, nimmt sie mit, sie treffen sich wieder, verlieren sich, er sucht sie, findet sie, schmeisst alles hin, will mit ihr weit weg gehen. Die Geschichte ist schnell erzählt und könnte einfach gedeutet werden als jene vom braven Familienvater, der sich in eine verführerische Hure verliebt und mit ihr ein neues Leben beginnen will.

Was als zufällige Begegnung beginnt, wird für ihn zur Notwendigkeit. Er verlässt Frau und Kinder für die neue Liebe, wagt den Ausbruch aus seinem Leben. Die Perspektive der Frau ist anders: Erst bezirzt sie ihn ganz professionell und will ihn loswerden, als er mehr will, doch dann schwankt sie und fängt an zu zweifeln. Ob der gemeinsame Ausbruch gelingt, bleibt unsicher und offen. Schweigend umschlungen stehen sie am Schluss im fallenden Schnee. Das Stück bezieht keine Position, verurteilt nicht, zeigt nur einfühlend die Schwingungen zwischen Mann und Frau.

Worte und Bewegungen

All das wird sehr überzeugend dargestellt. Das beeindruckende Bühnenbild und die sphärisch-spärliche Musik sind ein passender Hintergrund. Die jungen Schauspieler, Jonas Gygax und Katja Göhler, verkörpern die Figuren sehr glaubhaft. Anfangs noch ein wenig unsicher, finden sie immer mehr in ihre Rollen und verleihen nicht nur den Worten, sondern auch den Bewegungen viel Ausdruckskraft. So sind sie am besten in wortlosen Momenten, wenn zum Beispiel die Frau sich in eine überlange Bettdecke einhüllt und plötzlich in einem Wutausbruch anfängt zu schimpfen. Es wird nicht nur das Schweigen sichtbar gemacht, sondern auch der Zweifel. Mit dem offenen Schluss wird der Zuschauer mit seinen eigenen Zweifeln und Gedanken in die Winternacht entlassen.

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