Kultur-Begegnung als eskalierender Rundumschlag
Die Veranstaltung
Was: Verrücktes Blut, Auawirleben
Wo: Dampfzentrale, Bern
Wann: 07.05.2011 bis 08.05.2011
Bereich: Theater
Der Autor
Andreas Oehninger: Andreas Oehninger, Jahrgang 1981. Studiert Philosophie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2011 erste Versuche als Freier Journalist.
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).
Von Andreas Oehninger, 9.5.2011
«Verrücktes Blut» inszeniert Schule: Sieben jugendliche Secondos und eine deutsche Lehrerin (Sesede Terziyan) in einem Klassenzimmer, wo es um Schiller geht, seine Grundgedanken der ästhetischen Erziehung, die Ermächtigungsdynamik in den «Räubern», das unmögliche Vertrauen in «Kabbale und Liebe». Durchgespielt wird die Disziplinierung in allen ihren Achsen, an allen ihren Fronten. Um das Klassenzimmer, das anfangs fest in der machistisch sexistischen Hand der fünf jungen Männer liegt, dramaturgisch zum Fliegen und pädagogisch zum Abstürzen zu bringen, braucht es zweierlei Munition. Erstens gerät eine handfeste Pistole in die Hand der Lehrerin; macht diese zur Kidnapperin; versetzt die Kids in Schockstarre; öffnet sie für die Ich Werdung à la Schiller, die von der Lehrerin, wenn das reale Ich für die Erziehung in Form roher Gewalt nicht erreichbar scheint, zumindest als Theater- oder Bürgerreife (Aussprache, Semantik, Haltung) immer brutaler eingefordert wird.
Nachdenkliche Begeisterung
Zweitens bringt die gleiche Lehrerin dank ihrer unverhofft eroberten Machtsituation das komplette verfügbare Arsenal diskursiver Machtmittel ins Spiel. Schiesst mit den Kanonen aufklärerischer Grundgedanken und Mediendebattenversatzstücken auf ihre Schüler-Spatzen, deren ohnmächtige Gewalt- und Verweigerungsstrategien, deren Gender-Abgründe und kulturell codierte „Überzeugungen“. Das Publikum: zuerst zögernd bis fast abgeneigt, dann irritiert und immer lauter lachend, dann nachdenklich und begeistert. Die Macht des Stückes auf den Zuschauer scheint zunächst darin zu liegen, dass diese doppelte Schiessbude der physischen und der diskursiven Gewalt in maximaler Enthemmung schlicht losgelassen wird, und wie dadurch beide Enden der Disziplinierungsachse – Aufklärung als Erpressung, Verweigerung als Verzweiflung – nicht nur als nicht aushaltbare, sondern auch und vor allem als nicht haltbare Positionen enthüllt werden.
Im Genre des Kidnapping-Dramas ist mit angelegt: Die Schauspieler leisten das Glaubenmachen (die Glaubhaftigkeit der handelnden Person) und das Implodieren (oder Explodieren) der Figur. Dies zeigt sich namentlich am Ende. Die gläubige Muslima der Klasse nimmt ihr Kopftuch ab, um damit den als Inbegriff des Bösen identifizierten Pistolenbesitzer zu fesseln; dabei erlebt sie einen Freiheits-Flash, der Erinnerungen an das Musical Hair wachruft. Und auch der doppelt marginalisierte Kurde Hassan – er hat kein Land und, gemäss Lehrerin, keine Eier – ergreift plötzlich die «Macht» (die Pistole) und produziert, kurz bevor der Unterricht zu Ende ist, seine spontane Ermächtigung. Ähnliche, wenn auch feiner dosierte Befreiungs-Explosionen erlebt während des ganzen Stückes die Lehrerin, die schrittweise immer neue Gedanken- und Handlungsverbote bricht und damit – stets im Namen des Guten – immer böser wird: Verlängerung des Autors (Dramaturgie: Jens Hillje) und der Regie (Inszenierung: Nurkan Erpulat) eskalierender Entfremdung zwischen sich aufklärerisch und widerständig gebärdenden Subjekten, die uns aus dem Alltag – wenn auch nicht so dicht und so gebündelt – ganz vertraut vorkommt.