Sintflutartige Erzählung

Die Veranstaltung
Was: Sayyed el-Dawwy: Sira
Wo: Theater Spektakel, Seebühne
Wann: 24.08.2011
Bereich: Musik
Die Autorin
Gabriele Spiller: Kulturvermittlerin, Journalistin und Autorin: http://gabriele-spiller.jimdo.com
Die Kritik
Lektorat: Moritz Weber.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Theater Spektakel (siehe Unabhängigkeit).
Von Gabriele Spiller, 25.8.2011
Parallel zur Premiere des Schweizer Films «Sira – Wenn der Halbmond spricht» treten die Protagonisten Sayyed el-Dawwy und seine Gruppe zu einer Aufführung des arabischen Epos am Theater Spektakel auf. Neunzig Minuten werden den Musikern eingeräumt, um den Besuchern eine Kostprobe des mehrtägigen Spektakels zu geben, das aus über fünf Millionen auswendig rezitierten Versen besteht.
Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei der Erzähler, der achtzigjährige Ägypter Sayyed el-Dawwy, der noch als einziger Mensch diese Gedächtnisleistung vollbringt. Und so gruppieren sich die Musiker im Halbkreis hinter dem majestätisch dasitzenden el-Dawwy und beginnen einen Rhythmus zu spielen. Drei Männer, darunter el-Dawwys Enkel Ramadan, spielen die Rababa, eines der ältesten Streichinstrumente überhaupt. Zwei weitere Männer trommeln. Sie tragen weisse Turbane, grau-braune Galabijas und schöne bestickte Tücher über die Schultern.
Eine Welt für sich
Rezitale und Gruppengesänge wechseln sich ab. Die Sira el-Hilaliyya beschreibt die Abenteuer des Wüstenvolks Bani Hilal und seines Anführers Abu Zaid. Die Geschichte spielt im 11. Jahrhundert. El-Dawwy stellt die Geburt des Helden Abu Zaid vor. Er hebt den Zeigefinger, unterstreicht seine Worte mit wenigen Gesten. Die Musiker wirken weitgehend unbeteiligt, trommeln stoisch und verharren streichend auf einem Ton der Rababa. Selten erhebt el-Dawwy die Stimme, dann zieht das Tempo wieder an.
«Eingeweihte» Zuschauer klatschen stellenweise mit, der Chor der fünf Begleitmusiker fällt mit einem Refrain ein. El-Dawwy sitzt würdig mit geschlossenen Augen vor seiner Gruppe und setzt mit fester Stimme seine Sätze. Unbeirrt schreitet er weiter durch seine Märchenwelt. Für den des Arabischen unkundigen Hörer ist unklar, wo er sich befindet. Das Wechselspiel von Vorsänger und Gemeinschaft wirkt archaisch. Gegen Ende schlägt el-Dawwy mit seinem Stock den Takt.
Land unter auf der Seebühne
Aber zum geplanten Ende kommt es nicht. Während des Konzerts geht ein immenser Wolkenbruch nieder. Der unaufhörlich prasselnde Regen sorgt für eine für die Ägypter eher ungewohnte Hintergrundkulisse. Die Truppe sitzt in Wasserlachen auf der Seebühne, die langen Kaftane saugen die Nässe auf. Fünfzehn Minuten vor dem erwarteten Schluss fällt der Ton aus. Die Gruppe beendet das Konzert mit einem improvisierten Trommelabschluss. El-Dawwy scheint enttäuscht, dass er seine Episode nicht zu Ende erzählen konnte, doch das Publikum klatscht dankbar für die künstlerische Leistung und ist erleichtert darüber, selbst gehen zu können. Es bleibt ein Bild von der Sira als sintflutartiger Erzählung und el-Dawwy als unbeirrbarem Fels in der Brandung.