Observatio II
Die Veranstaltung
Was: 2 x 2. Interdisziplinärer Werkdiskurs
Wo: Zürcher Hochschule der Künste
Wann: 02.11.2011
Bereich: Observer in Residence Perikles Monioudis
Von Perikles Monioudis, 2.11.2011
Sein ganzer Stolz bestand zu jener Zeit in einem Walkman von Sony, kein Gerät aus der allerersten Generation zwar, aber das bis dahin kleinste, nur geringfügig grösser als eine Audiokassette. Aus Aluminium gefertigt, eignete dem Walkman fast nur das Gewicht der Kassette; die paar polierten Knöpfe liessen sich auf eine leichte Berührung hin betätigen, das Getriebe sirrte leise, der Deckel war gefedert. Der Gymnasiast fuhr auf dem Rad zu Schule, den verschwindend kleinen Walkman in der Tasche seiner Jeans verstaut, den schmalen Bügel, den je ein Ohrhöhrer abschloss, auf dem Kopf. Er fuhr über den Feldweg, links und rechts käuten Kühe im Gras wieder, weiter vorn wich er ihren Exkrementen aus, deren Gestank ihm – ausser im Sommer, wenn das Vieh auf der Alp weilt – täglich in die Nase stach. Er erkannte eine frühere Mitschülerin auf dem Feld, die seit kurzem ganz auf dem elterlichen Hof mithalf; sie grüssten sich auf die alte, pennälerhafte Weise. Bei der Schweinemästerei trat er kräftiger in die Pedale, drehte die Lautstärke auf; Grandmaster Flash and the furious five brüllten ihm ins Ohr.
Das war zu der Zeit, als er sich – mit viel Aussenseitergefühl – zu einer Absetzbewegung entschlossen hatte, ohne dass er allerdings hätte benennen können, wovon er sich hatte absetzen wollen, welches Spiel eigentlich er nicht mehr mitzumachen gedachte, mit wem er brechen wollte. Es war eben nur dem altersgemässen Gefühl geschuldet, am Rande zu stehen, die Welt nur gerade von aussen zu sehen, das ihn wohl mit Grandmaster Flash und all den anderen schwarzen Rappern und Breakern verband, und nicht nur ihn, eine ganze Generation, zumal in der Ostschweizer Provinz.
Diese rhythmische, textbetonte Musik hatte es vermochte, seine Wahrnehmung der Landschaft zu verändern; er fuhr auf dem Rad und hörte sich eine andere Welt herbei. Was später mit Bruckner und Mahler sich auf eine ähnliche Weise für ihn – wenn auch nicht auf einer Corbusier-Liege – wiederholen sollte, fand mit dem Walkman seinen Anfang: die absichtliche Verknüpfung von Räumen mit Musik – oft genug mit dem Ziel, jene sinnhaft zu erweitern; den schlammigen Feldweg nichts weniger als zum Pfad, der zum Hades führt; den aus dem nahen Hochalpinen herunterstürzenden, reissenden Fluss zum Hades selbst.
Jahrzehnte später suchte er in der Zürcher Förrlibuckstrasse eine Örtlichkeit der ZHdK auf. Im volldigitalisierten Studio Komposition für Film, Theater und Medien wohnte er der abendlichen Vorführung zweier Kurzfilme bei, deren Musik und Sounddesign die beiden Studenten Jonas Zellweger und Christof Steinmann besorgt hatten. In dem einen Werk, dem Animationsfilm mit echten Schauspielern, überkam ihn das Gefühl, in einer Spieluhr zu weilen und zwei herumirrenden Liebenden dabei zuzusehen, wie sie, immer wieder von konzentrisch angeordneten, beweglichen Häuserzeilen voneinander getrennt, den Moment suchten, da das riesige Räderwerk, das die ganze Stadt antrieb, stillstand. Fanden sie endlich zueinander, zog die Liebende mit dem Schlüsselin schnell das Herz des Liebenden auf – doch auch die Stadt begann, sich wieder zu bewegen, worauf sich die beiden neuerlich aus den Augen verloren.
Die modellhaft, breugelhaft, ockerpastellig wirkende Stadt bewegte sich also nach der technisch ausgereiften Kompostion von Zellweger und Steinmann, die Töne von einer musealen mittelalterlichen Grossmühe mitgeschnitten und mit der vorstrukturierenden Wirkung von Akkorden und Glockenspiel zu einem monotonen, auf drei Tonstufen basierenden Motiv verwoben hatten. Das Motiv schritt, auf diesen drei Ebenen, beliebig kombinierbar auf und ab und fort, um im Holywood-Bombast der Bildtotalen – die Stadt als riesenhaftes Räderwerk – zu enden.
Ich nahm gedanklich den Bügel mit den Ohrhörern ab, drückte sanft auf die Stopptaste meines Walkman – den ich längst nicht mehr besass. Die 20 Personen, die den elaborierten Ausführungen der beiden Studenten gelauscht und sich teilweise am Gespräch beteiligt hatten, begaben sich ein Stockwerk höher zu den bildenden Künstlern; die Studentin Florence Jung zeigte dort in einem kleinen, mit weissen Wänden beschalten Saal drei schwarzlackierte Heugabeln, die auf über zwei Metern Höhe waagerecht in der Wand steckten. Sie stamme aus einer Bauernfamilie, sagte sie bald, und sie wolle mit der Installation die Tatsache fassen, dass in den vergangenen 15 Jahren alles Bäuerische, das zuvor im allgemeinen nicht der Rede wert war, in einer medialen Überformung gesellschaftsfähig gemacht worden sei; TV-Serien wie “Bauer sucht Frau” seien beliebt, es träten dabei Städterinnen in Stöckelschuhen auf den Plan. Kaum ein Kleiderladen, so Jung, der heute nicht mit Versatzstücken aus der Landwirtschaft dekoriert sei, einem Heuballen, Seilen, eben einer Heugabel. Die Stilisierung des Bäurischen zum sicheren und ehrlichen Wert, zum Authentischen schlechthin, sei ein fake.
Er fragte sich, wo sein Walkman von damals hingekommen ist. Er musste ihn verschenkt haben. Nach dem Abend mit Zellweger, Steinmann und Jung vermisste er ihn nicht.
2 x 2. Interdisziplinärer Werkdiskurs. Studierende stellen ihre Kompositionen / Werke vor und zur Diskussion. Zwei Mal im Semster. ZHdK in der Förrlibuckstr. 62, Zürich. Besuch am 2. November 2011.