Observatio I

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Denk-Allmend: 52 Zukunftsideen
Wo: Theater der Künste, Bühne A
Wann: 11.10.2011 bis 16.10.2011
Bereich: Observer in Residence Perikles Monioudis

Von Perikles Monioudis, 11.10.2011

Da war es wieder, das Taschenbuch, das ihm in den vergangenen Tagen im Drehregal des nahen Kiosks aufgefallen war. In der herbstlichen Abendsonne blitzten die gestanzten silberfarbenen Lettern auf dem Umschlag noch einmal auf. Er fragte sich, in welche Kinderhände es gelangen würde; das Mädchen mit der blauen Jacke näherte sich dem Drehregal, griff nach dem Buch und schlug es schnell auf, sie las sich darin fest.

Noch immer vermochte das Lustige Taschenbuch zu fesseln, dachte er, der als Kind unzählige Stunden mit den Erzeugnissen des Berliner Ehapa-Verlags verbracht, sich in sie imaginiert und die Abenteuer der Figuren Walt Disneys mimetisch auf sich gewendet hatte. Er war Donald, er war die drei Neffen, er war der reiche Dagobert, und ihm konnte dann nichts Schlimmes widerfahren, Disney gab auf ihn acht; nicht nur auf ihn, Disney, ein Spinner, hatte mit tiefem Ernst die Idee von Disneyland ‒ heute ein riesiger Vergnügunspark in Anaheim, Kalifornien ‒ sowie Disneyworld ‒ nunmehr ein Freizeitkomplex in Orlando, Florida ‒ verfolgt, in denen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwinden würden, gross genug für Tausende Menschen, die in einer von den Krankheiten der Zivilisation ‒ wie er das nannte und worunter für sein Verständnis auch Ehebruch und sozialer Protest fielen ‒ befreiten Welt lebten, in seiner Welt, in der Experimental Prototype Community of Tomorrow (EPCOT), einer kreisrund angelegten Stadt unter einer riesigen Glaskuppel, die den neuen Sozialverbund von allen Umwelteinflüssen abschirmen sollte.

Disneys Einfluss freilich würde darin erhalten bleiben. Der König von Amerika, wie er sich einmal bezeichnete, behielt sich die alleinige Entscheidungsbefugnis in seiner Welt vor; er war es, der sagte, wer nach welchen Kriterien Eintritt erhalten oder welcher Regelverstösse wegen ausgeschlossen würde.

Das Modell der EPCOT-Glaskuppel von 1966 erinnerte viele an ein Ufo. Kein Wunder, Disney hätte wohl am liebsten diesen Planeten verlassen und anderswo neu angefangen; der Entwurf selbst war angelehnt an Wernher von Brauns Vorstellungen von einer Raumstation, die der deutsche Raketenbauer und spätere Nasa-Held schon 1952 entworfen und bei dem dann auch Stanley Kubrick für 2001 ‒ A Space Odyssey abgeschaut hatte.

Das Mädchen hüpfte an der Hand seiner Mutter in den Bus, setzte sich ans Fenster und las im Lustigen Taschenbuch weiter. Er aber machte sich zu den Räumlichkeiten der Gessnerallee auf; die einstigen Zeughäuser, Reithallen und Stallungen werden seit über zwanzig Jahren im Kontext der Kultur genutzt. Im Theater der Künste, wie einer der Orte nun heisst, wurden im Oktober 2011 wiederum Ideen der Umnutzung präsentiert, keine neuen Entwürfe für die Gessnerallee selbst, sondern für das riesige Gelände des Militärflugplatzes Dübendorf.
52 Zukunftsideen war auf dem dicken Ausstellungskatalog zu lesen; eine Denk-Allmend, zur Demokratisierung von kreativen Prozessen angelegt, sollte die Projekte spriessen lassen.
Die Bühne A des Theaters der Künste war mit 52 hölzernen Bauprofilen bestanden, daran einzeln affichiert Papptafeln mit den Projektbeschreibungen der geladenen Teilnehmer ‒ studentische Gruppen, Einzelne, renommierte Architekturbüros. Ihre Überlegungen gingen in unterschiedliche Richtungen: Riviera Metropolitana, Outdoor Sports Complex, Slow Urban Area, Zeitreise (frühere Nutzungen nebeneinander wiederaufnehmen), Swiss International Park, E.Feld (Forschungs- und Entwicklungszentrum), Nullpunkt («wo man sein kann, ohne zu müssen»), Gea + Uranos («Die tiefe Weite, die lange Leere, die hohe Sicht»), K-Würfel («weniger ist mehr»), Urban.Strip, MyLife, Albedo 1.0, Explore & more, Ad Astra und so fort.

Prämiert wurden von einer Fachjury, bestehend aus ZHdK-Internen und -Externen, denen das Areal des Militärflugplatzes Dübendorf freilich nicht gehört, Dübenholz («Ein Waldgebiet als urbane Infrastruktur: Zur Erzeugung von Energie und Trinkwasser, zur landwirtschaftlichen Nutzung, zur Reduktion von CO2 sowie als städtischer Erholungsraum»), Ein Moment der Klarheit («Jeder wird etwas anderes sehen», eine gigantische spiegelnde Fläche, «damit wird der Ort aufgehoben und gleichzeitig unendlich gross») sowie je mit dem 3. Preis Düland («Ein Land ohne Politiker, ein Land ohne Grenzen») und Flex ‒ Die flexible Stadt («Raum für Individualität»).

Er verliess die Ausstellung, nachdem er sich alles genau angesehen hatte. Bald kam er beim Drehgestell am Kiosk vorbei. Das Mädchen mit der blauen Jacke schien hier die einzige Stammleserin der Lustigen Taschenbücher zu sein. Die Lücke, die ihr Kauf hinterlassen hatte, schloss kein neues Exemplar.

Denk-Allmend: 52 Zukunftsideen. Ausstellung und fünf Veranstaltungen. 11.-16. Oktober 2011, Theater der Künste, Bühne A, Gessnerallee, Zürich.

Weiterlesen: