Auf Musikentzug Stille neu erleben
Die Veranstaltung
Was: Nicole Seiler: Playback
Wo: Theaterhaus Gessnerallee
Wann: 11.02.2011 bis 12.02.2011
Bereiche: Musik, Performance, Tanz
Die Autorin
Melanie Burkhoff: Jahrgang 1981, ausgebildete Kommunikationsdesignerin, studiert aktuell im Abschlusssemester Master Art-Education, Vertiefung publizieren & vermitteln, an der Zürcher Hochschule der Künste.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Theaterhaus Gessnerallee (siehe Unabhängigkeit).
Von Melanie Burkhoff, 18.2.2011
Um den angekündigten Entzug einfacher zu gestalten, gibt es am Anfang eine Überdosis. Wie bei einer Ü30-Party dröhnt es im Zehnsekundentakt aus den Boxen: „I’m crazy like a fool, what about it Daddy Cool“,„Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen…“, „Pleased to meet you, hope you guess my name“. Einen Platz in der Halle des Theaterhauses Gessnerallee eingenommen, hat man fast das abendfüllende Repertoire einer 70er/80er-Party hinter sich. Das musikalische Gedächtnis wird noch einmal aufgefrischt, bevor die Musik für circa 65 Minuten verstummen wird. „Wanna be startin’ something“ von Michael Jackson ertönt und erscheint gleichzeitig als Schriftzug auf der weissen Leinwand. Der Gesang von Michael wird leiser, bis er ganz in die Stille entschwindet. Erlösende Ruhe für das Diskomusik-geplagte Ohr. Die Projektion der Songtitel, auch hier wie Snippets meistens nur 10 Sekunden lang, wird einen nun den ganzen Abend begleiten, wie auch das Fehlen von Ton.
Ich sehe was, was ich nicht höre
Das sechsköpfige Tanzensemble der Lausanner Choreographin Nicole Seiler stellt nun anfangs ganz in Weiss und hautengen Ganzkörperanzügen, später dann auch in Farbe mit Perücken und silbern glitzernder Hosen nach und nach die projizierten Titel in einer Art Pantomimenspiel dar. Mal bildlich, als gerade, weisse Linie bei „Cocaine“ oder nachgestellten Kakteen bei „Les Cactus“, was für Gluckser im Publikum sorgt. Oder sinnbildlich: Bei „Sympathy for the Devil“ scheint eine der Tänzerinnen durch ihren Tanz mit dem Teufel zu sympathisieren. Sie stampft, keucht, schnauft und kriecht in waghalsigen, verrenkten Posen auf dem Boden. Kein imaginärer Mick Jagger, der einem ins Ohr singt. Der Titel kann eher als Überschrift für diese beeindruckende und gelungene Performance gelesen werden.
Da da da
Durch die musikalische Stille entwickelt man als Zuschauer eine Sensibilität für jede Art von Geräusch. Das unangenehme Quietschen, was die Gummisohlen der Turnschuhe beim Auftreten verursachen können, jede Bewegung, jedes tiefe Ein- und Ausatmen gewinnen an akustischer Bedeutung. Man erkennt: Ohne Musik ist es ganz und gar nicht still. Und die angekündigte imaginäre Musik, die man unweigerlich hören soll, wenn ein bekannter Titel erscheint? Tatsächlich. Bei „Nur geträumt“ kommt einem die Melodie sofort in den Sinn und wenn ein Tänzer seine Lippen lautlos zu: „Da…Da…Da“ bewegt, meint man, den Song wirklich zu hören.
Die einfache Lösung
Die Darbietungen der Titel geraten jedoch häufig zu einfach. Mit dargestellten Weihnachtsbäumen bei „Do they know it’s Christmas“ und mit der Hand nachgebildeten „Sonnenbrillen“ bei „California Dreaming“ erscheint die Lösung leider oft zu platt. Beim Robben auf dem Boden zu „Tour de France“ scheinen die Tänzer gar Teil eines Pantomimenspiel für Kinder zu sein.
Geniale Projektionen
Doch bedient sich Nicole Seiler nicht nur des darstellerischen Könnens ihrer Tänzer, sondern auch technischer Hilfsmittel. Mit einem besonderen künstlerischem Verständnis und staunenswertem Einfallsreichtum bringt sie sensationelle Projektionen auf die Leinwand. Sie wirft grobkörnige, schwarzweisse Doppelgänger ihrer Tänzer mithilfe einer Infrarotkameraprojektion auf die Leinwand, die zeitversetzt mit ihren Originalen tanzen. Schatten werden bei ihr dreidimensional, indem sie sie farblich umrandet und mit ihren Tänzern verschmelzen lässt.
Der Playbackeffekt
Was man letztlich hört, wenn das Playback ausgeschalten ist, verdeutlicht eine der koreanischen Tänzerin bei „너무합니다“ (hier scheint der Song nur vorstellbar mit einem gewissen Grundkenntnis der koreanischen Schriftsprache). Den weissen Strampelanzug durch ein elegantes, lachsfarbenes Abendkleid ausgetauscht, flüstert sie den Song mit gepresster Stimme und theatralischer Gestik in ein Mikro, welches via Lautsprecher diesen beängstigenden Flüstergesang ins Publikum trägt. So grauenvoll muss es sich wahrlich anhören, wenn einmal das Playback ausfällt.
Gehört gesehen
Doch wie lässt man Stille ausklingen? Indem man die Musik zurückholt, kaum hörbar, sanft wie Strandgut mit dem Untermalen von Meeresrauschen wird sie am Schluss durch die Lautsprecher angespült. Die Tänzer betrachten nun selbst die aufgenommenen Kameraprojektionen, lassen gemeinsam mit dem Publikum Revue passieren, wie es mit Musik gewesen wäre. Sicherlich, die Performance hätte auch mit ihr funktioniert. Nur ohne sie konnte man erstmals hören, was sie sonst übertönt. Geräusche und Tanz entwickelten so eine ganz eigene Akustik. Playback bietet eine interessante, neue Sinneserfahrung. Seh- und hörenswert. 4 Sterne.