Zeichnerische Aneignungen der Welt
Die Veranstaltung
Was: Jäger und Wolf
Wo: R57, Zürich
Wann: 07.10.2011 bis 28.10.2011
Bereich: Bildende Kunst
Der Autor
Gabriel Flückiger: Gabriel Flückiger (geb. 1988) studierte Kunstgeschichte und Ethnologie.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: KunstRaum R57 (siehe Unabhängigkeit).
Von Gabriel Flückiger, 8.10.2011
Werner Castys (*1955) kleinformatige Zeichnungen der Reihe «alltäglich» (1997–2010) basieren auf Pressebildern, die uns nur allzu bekannt vorkommen: Flugzeugwracks entzweit am Boden oder kenternde Schiffe in stürmischer See. Überschwemmte Strassen mit Autos als Inselchen oder Berghänge nach Lawinenniedergängen mit aufgereihten Rettungssuchtruppen. Also Katastrophen und Zerstörung, Leid und Tod als scheinbar übergeordnete Themen. Es sind Motive, die aus der alltäglichen Zeitungslektüre stammen, vom Künstler gesammelt und in Farbstift- und Grafit-Zeichnungen mit akzentuierter und ruhiger Farbigkeit sowie feinem Strich übersetzt worden. Doch ist das Sammeln der Pressebilder nicht auf inhaltliche Kriterien ausgerichtet, sondern denkt Casty die Bildersammlung von anderer Seite her. Nicht das eigentlich erschreckende und spektakuläre Moment ist es, das ihn bei den gesammelten Bildern interessiert, sondern die rein visuelle Wirkung. Vergleichbar mit dem Erlebnis auf einer Wanderung, wo aus den vielen belanglosen Steinen des Weges plötzlich jener besonders flache oder runde hervorsticht, sucht Casty Bilder, die seine Aufmerksamkeit aufgrund ihrer formellen Komposition und ihrer Bildästhetik auf sich ziehen.
Vom Umgang mit der Bilderflut
Dass viele Vorlagen aus dem Bereich des katastrophalen Ereignis stammen, ist folglich nicht beabsichtigt, sondern korreliert – laut Einschätzung des Künstlers – vor allem damit, dass diese Art von Bildern in den letzten Jahren deutlich an medialer Präsenz gewonnen haben. Castys Zeichnungen sind insofern als spezifischer Umgang mit der oftmals überfordernden Menge an Bildern, jenen visuellen Aufdringlichkeiten zu lesen. Er sucht in der Flut der Masse nach besonderen Bildqualitäten, nach Momenten, wo das einzelne Bild in seinen formellen Eigenschaften noch überzeugen und berühren kann. Dies festzuhalten, zu verinnerlichen und künstlerisch wiederzugeben ist das Ziel. Es führt zu filigranen Zeichnungen mit dichtgesetzten Strichen, welche das Laute und Plakative der Pressefotografien in eine stille Miniaturwelten transformieren.
Das Verfahren, sich aus der umgebenden Welt Bildfragmente anzueignen, wendet Casty auch bei der Serie «Jäger und Wolf» (2007—2010) an. Die Arbeiten sind nicht mehr zeichnerische Umsetzungen von seinen gesammelten Pressefotografien, sondern übermalte er einen Grossteil der Vorlage gleich direkt mit Grafitstift schwarz und lässt nur einzelne Figuren übrig, die er mit Farbstift an- und mit Lack übermalt. Die Personen werden dadurch zu stark formalisierten Gestalten, die nur noch schematisch erkennbar und ohne individuelle Merkmale ausgestattet sind. In ihrer Reduktion erproben die Arbeiten jene Fähigkeit von Bildern, die in der alltäglichen Fluterscheinung allmählich verloren geht, nämlich sich klar und unverkennbar in die Erinnerung einzuprägen. Die Werke werden zu einem Abtasten und Überprüfen des Potentials einprägsamer und ikonenhafter Formen.
Zeigen und Verhüllen
Neben der Aneignung und Weiterverwertung, einem – im wörtlichen Sinn – Recycling von Pressebildmaterial, fotografiert Casty auch selber und vor allem dann, wenn er in die Berge geht. Es entstehen Aufnahmen von Gesteinsformationen und Geröllhängen, die er in einem zweiten Schritt mit Grafitstift auf Büttenpapier umsetzt; Zeichnungen, welche in ihrer Präzision an Siebdrucke erinnern und kleinste Detailspuren zeigen. In dieser Serie, «Flecken» (2011), lässt er aber Stellen des Papiers unbehandelt. Auf den ersten Blick wirken diese Flecken wie Schneefelder. Aufschluss über die Partien, was sich also wirklich dort befindet, erhält man freilich nicht. Die Leerstellen enthalten uns etwas vor, sind Verhüllungen und Verbergungen – gemeinhin Bildqualitäten, die reizvoll und phantasieanregend sind.
Die Wände im Kunstraum R57, einem Kleinstausstellungsraum im Zürcher Kreis 10, sind momentan ganzflächig gefüllt mit Castys Zeichnungen. Von Überfüllung kann aber nicht gesprochen werden. Die Zusammenstellung der Bilder funktioniert ohne grosse Töne und nichts drängt sich in den Vordergrund. Vielmehr wird Raum zur Reflexion gelassen. Casty versteht sich auch nicht als politischer Künstler, der die Überpräsenz von Bildern lautstark anprangert. Vielmehr ist er distanzierter Beobachter, der ein Fazit über unsere alltägliche, medial-überflutete Umgebung liefert. Vor diesem Hintergrund sucht er mit seinen Zeichnungen nach dem Potential des einzelnen Bildes sowie alternativen Strategien von Darstellungen. In dieser besonderen Suche kann durchaus Kritik am eigentlichen Zustand gesehen werden. Eine Kritik, die sich allerdings erst auf zweiter Stufe einstellt.