Ehrlich hilflos, hilflos ehrlich
Die Veranstaltung
Was: Hilde an der Sihl, der erste Tag
Wo: Theater der Künste, Bühne A
Wann: 06.10.2011
Bereich: Theater
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).
Von Christian Felix, 8.10.2011
Zwei Theatergruppen aus zwei Städten – Hildesheim und Zürich – treten an einem Abend im Theater der Künste auf. Sie bieten zwei völlig verschiedene Vorstellungen und kreisen thematisch doch um dasselbe: Das Nichts, die Leere, vielleicht um ein schwarzes Loch.
Der Auftritt der Gruppe «James & Priscilla» aus Hildesheim beginnt mit dem Lied «End of A Century». So lautet auch der Titel der Produktion. Man kommt nicht darum herum, diesen Titel als Programm zu verstehen. Ein Jahrhundert geht zu Ende. Was folgt jetzt? Auf der Bühne, im neuen Jahrhundert sozusagen, spielen die zwei Frauen und Männer von «James & Priscilla» ein gutes Dutzend Lieder. Musikalisch reiht sich Chillout, Rock und experimenteller Rock aneinander. Um Musikkritik geht es hier aber nicht. Nur soviel: Das Konzert macht Spaß, ist aber doch nicht hinreißend. Was ist nun aber mit dem Theaterauftritt?
Alltägliches Liebesdrama
Man kann ohne weiteres aus prägnanten Musikzeilen der Lieder eine Art Botschaft herleiten. «Ende des Jahrhunderts», «Ich möchte eine kleine Seerose sein», «Mein Körper ist ein Käfig…» Zusammen genommen wirkt das stoisch-leidend, leicht abgelöscht und auch etwas emo (um einen solchen Ausdruck mal zu bemühen). Wenn allerdings «James & Priscilla» die Lieder tatsächlich in Hinblick auf ihre Textwirkung ausgewählt haben, war das der Mühe nicht wert. So aufmerksam folgt kein Publikum Liedtexten.
Da ist nun aber noch die Handlung, d.h. ein Dialog, der zusammen mit den Liedern eine Geschichte erzählt – eine belanglose Geschichte indes, ohne Anfang, ohne Ende, ein alltägliches Liebesdrama, wie es immer schon da war, da ist, da sein wird. Es ähnelt einer sehr bekannten Filmhandlung. Die eine Protagonistin fährt mit einer Straßenbahn nach Begierde, bzw. Sehnsucht. Allerdings kommt hier noch die Endstation Friedhof dazu, und eine Haltestelle Elysische Gefilde. Das war’s dann auch.
Die reduzierten und einprägsamen Dialoge sowie die konzentrierte und schwer unterkühlte Aufführung hinterlassen ein Loch. Hat man was verpasst? Hat man Anspielungen überhört? Davon gibt es ja eine Unzahl. Soviele, dass man beschließt, von nun an simple Anspielungen als Jugendsünden zu taxieren, und raffinierte erst recht. Wie auch immer, zurück bleibt die Hilflosigkeit der Figuren und des Zuschauers. Man wähnt sich in einem Jahrhundert und Zeitalter, in dem es nur noch Leere gibt und ein Nichts. Am Ende fragt man sich, ob man überhaupt noch lebt. So gesehen ist das Stück «End of A Century» eine Wucht. Und es bietet einen glatten Übergang zur nächsten Aufführung.
Neue Dringlichkeit
Das Stück mit dem unmöglichen Titel «Ich möchte mir dir tanzen in mir eingebranntes Bild des Ägyptischen Revoluzzertums» ist das pure Gegenteil der ersten Aufführung. Die Zürcher Gruppe «neue Dringlichkeit (nD)» veranstaltet ein wahres Tohuwabohu auf der Bühne. Körper, Musikfetzen, Bilder, Videos, Requisiten wirbeln überall herum. Unterschiedlichste Inszenierungstechniken werden zu einem Spektakel verbraten. Das geht vom Break-Dance bis zum Sprechchor. Und hinter all dem steckt auch wieder nur die doppelbödige Hilflosigkeit. Die Schauspieler tanzen hilflos um die darzustellende Hilflosigkeit.
Was ist geschehen? In Ägypten ist eine Revolution ausgebrochen. Nicht hier, wo sich junge Leute nach einer Veränderung, nach einem Umbruch, überhaupt nach irgendeinem Geschehen sehnen. Es ist im fernen Ägypten passiert, dem Inbegriff für den warmen, geheimnisvollen uralten Orient. Sogleich wird auch die Revolution auf Tahrir-Platz zur Projektion. Es gibt nichts Schöneres als einen Volksaufstand unter Palmen. Ein einfacher Feind, alle halten gegen ihn zusammen und siegen. Während hierzulande sich nirgendwo ein Hebel ansetzen lässt. Aus Verzweiflung wird man Vegetarier oder sogar Veganer und weiß doch genau, dass man damit niemandem hilft.
Revolutionssehnsucht
Natürlich entlarvt jeder schwach begabte Psychologe die Revolutionssehnsucht in unseren Breitengraden als Neurose. Natürlich müssen die Ägypter dankbar sein, wenn sie nach ihrer Revolution auch nur halb so viele Freiheiten und politische Rechte erhalten wie wir. Solche Einsichten jedoch steigern die Ohnmacht nur und lassen einen eine noch stärkere Dringlichkeit spüren, etwas zu tun. Was tun? Das wusste die Gruppe «neue Dringlichkeit (nD)» auch nicht, als sie die Versatzstücke ihrer Ausführung wählte.
Immerhin ist mit dem Arabischen Frühling die Stimmung gekippt. Es ist Hoffnung aufgekeimt, dass bald überall ein Tahrir-Platz sein wird, von Tanger bis zu Tienanmen. Selbst die Theatergruppe «neue Dringlichkeit (nD)» wäre ohne den arabischen Frühling nicht entstanden. Sie bringt unverfälscht und ehrlich die Befindlichkeit einer Generation auf die Bühne. Eine Pirouette zuviel stört dabei niemanden. Applaus.
Den beiden Aufführungen von Hilde an der Sihl zusammen ist es hoch anzurechnen, dass sie ein Zeitgefühl in eine künstlerische Form bringen. Dies, obwohl es an sich unmöglich ist, der Leere eine Gestalt zu geben. Wenn sie dabei ab und zu Hilflosigkeit an den Tag legen, ist das nur ehrlich.