Der Kritiker als Therapeut

KulturMedienWandel
KulturMedienWandel ist eine gemeinsame Rubrik der Plattform Kulturpublizistik und von Migros-Kulturprozent Online. In dieser Rubrik werden Phänomene und Entwicklungen im Schnittfeld von Kultur und Medien aufgegriffen, reflektiert und kommentiert.
Der Autor
Tobi Müller: Jahrgang 1970, Journalist und Publizist in den Bereichen Theater und Musik, lebt in Berlin, arbeitet u.a. für Deutschland Radio Kultur, für das Schweizer Radio und Fernsehen und für diverse Printmedien im deutschsprachigen Raum.
Von Tobi Müller, 11.7.2011
Wie nachtkritik.de das Ende des Theaterkritikers alten Schlages vorführt, oder: braucht eine veränderte Kunst auch eine veränderte Kritik?
Seit der Gründung von nachtkritik.de geht es dem Theaterbetrieb etwas besser. Als die erfahrenen freien Journalisten vor vier Jahren mit dem Projekt angetreten sind, Kritiken deutschsprachiger Premieren bereits am Folgetag ab 9 Uhr im Netz zu veröffentlichen, glaubten weder die Kollegen der gedruckten Zeitungen noch die Theaterschaffenden so richtig an diese Idee. Kritik im Netz, schnell geschrieben, von einem Heer von Nachwuchskräften? Niemand hat mit dem Triebstau des Betriebs gerechnet, mit der Lust auf Streit und Rache, mit der Freude am Besserwissen, Belehren, Abstrafen, manchmal auch: Liebkosen.
Auf nachtkritik.de kann man auch ausführliche Zusammenfassungen anderer Kritiken lesen, es gibt ein wachsendes Lexikon zu Begriffen und Akteuren der Szene, die Seite ist hervorragend verlinkt, und auch aus dem fremdsprachigen Ausland erreichen einen immer wieder Überblickstexte. Doch das Kerngeschäft von Nachtkritik sind die Kommentare der User. Nachtkritik.de ist das Triebventil des deutschsprachigen Theaterbetriebs. Dort kann man anonym seine Meinung posten, die zwar durch einen redaktionellen Filter hindurch muss. Doch was nicht allzu sehr beleidigt, wird durchgewunken.
Online: Auswanderungsdestination für Theaterkritiker
Kritiken im Netz waren schon vor vier Jahren nichts Neues. Manchmal liegen Theaterkritiken aber auch tagelang auf den Redaktionen rum, gerade wenn sie von freien Mitarbeitern geschrieben wurden. Seit die Zeitungkrise vor rund 10 Jahren erstmals die Feuilletons und Kulturteile beschnitten hat, verlor auch die Theaterkritik rasch an Bedeutung. Poetisch, bezugreich, assoziativ und dabei noch überregional zu schreiben, wurde schwieriger. Diese Entwicklungen haben die Berliner Journalisten aus nächster Nähe erlebt. Statt zu jammern, gründeten sie ihr eigenes Portal, mit ziemlich viel privater Unterstützung und noch etwas öffentlichem Stiftungsgeld dazu.
Ein wichtiger Impuls lag aber auch in der Überzeugung, dass eine veränderte Kunst eine veränderte Kritik brauche. Man wollte die „Einbahnstrasse Kritik“ mehrspurig gestalten. Das ist in der Tat der grösste Bruch in der Geschichte der Theaterkritik. Denn rund 200 Jahre lang regierte auf der Bühne das Theater, im Parkett das Publikum und in der Zeitung der Kritiker. Gotthold Ephraim Lessing hatte es am Ende des 18. Jahrhunderts zum letzten Mal anders versucht. Seine später als „Hamburgische Dramaturgie“ berühmt gewordenen Feuilletons waren Auftragsarbeiten des Theaters selbst – anschauliche Theorie aus dem Hamburger Schauspielhaus heraus, anhand von konkreten Inszenierungen. Doch bald verboten ihm die Schauspieler die Kritik. Fortan war die Figur des Theaterkritikers an privatwirtschaftliche Medienunternehmen namens „Zeitung“ gebunden.
Das Publikum als Sender
Mehr als zwei Jahrhunderte nach Lessing hat nicht nur in der Medienwelt der „Empfänger“ eine andere Bedeutung erhalten. Vor rund hundert Jahren erfand man im Theater den Regisseur, dessen Macht kontinuierlich wuchs. Manche fanden, auf Kosten des Autors. Doch was heisst hier Autor? Man sieht seit ein paar Jahren viele Romanbearbeitungen auf den Bühnen. Und selbst der Schauspieler ist nicht mehr, was er mal war: „Experten des Alltags“ stehen auf den Projektbühnen, die sich als Labor des gesellschaftlichen Dialogs verstehen. Darsteller, die von sich erzählen, als Migranten, als Künstler, als Sexarbeiter, als Zeitzeugen ihr Leben performen – als all das, was das traditionelle Theaterpublikum nicht ist.
Ist Nachtkritik das Labor der Theaterkritik? Teil der Nachtkritik-Idee war ursprünglich, andere Textformen auszuprobieren. Mitunter solche, die dem Gespräch nach der Premiere nachempfunden sind. Beim ersten Bier, wenn die Sinnfäden noch lose und das Urteil – meistens – noch offen für Einwände ist. Mit diesem Anspruch ist man gescheitert. Vieles liest sich wie eine mal bessere, mal schlechtere Theaterkritik, die genau so auch in der Zeitung stehen könnte. Und das öfter auch mal tut: Der Preiszerfall auf dem freien Kritiker-Markt ist derart drastisch, dass Zweitverwertungen nicht selten sind. Wer noch durchschnittlich 100 Euro verdient an einem Text, der nimmt auch gerne die 70 Euro von Nachtkritik. Und gerade die Nachwuchsschreiber schätzen das Portal als Schaufenster für Aufträge im Papiergeschäft.
Manchmal staunt man, wie differenziert einzelne Diskussionen auf nachtkritik.de ablaufen. Es tummelt sich viel Kompetenz auf dieser Seite. Aber auch viel Selbstüberschätzung, Narzissmus, Tollerei. Nicht jedes Argument wird besser, nur weil jetzt mehrere mitreden. Doch wer dem Betrieb den Fiebermesser halten will, muss regelmässig auf nachtkritik.de nachschauen. Ein bisschen Temperatur ist da immer irgendwo.