Nachtstücke am helllichten Tag
Die Veranstaltung
Was: Wahlverwandtschaften - Literatur und Musik
Wo: Tonhalle, Kleiner Saal
Wann: 28.02.2010
Bereiche: Literatur, Musik
Der Autor
Lukas Meyer: Jahrgang 1983, studierte Philosophie, Geschichte und Literatur und arbeitet als freier Journalist und Texter in Zürich.
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Von Lukas Meyer, 1.3.2010
Für „Nachtstücke“ war der Zeitpunkt – als Matinée am Sonntagmittag – denkbar ungünstig gewählt. Wohl mögen einige Nachtschwärmer erst um diese Zeit den Club verlassen und unsicher in die Sonne blinzeln, doch werden ihre ersten Schritte sicherlich nicht in die Tonhalle führen. Es fanden sich aber erfreulicherweise genug Leute ein, der kleine Saal war fast voll. Das Publikum war wie gewohnt etwas älter, durchsetzt mit einigen jungen und jüngeren Gesichtern.
Elisabeth Bronfen, Anglistik-Professorin an der Universität Zürich, leitete ihren einführenden Vortrag mit der Bemerkung ein, die Nacht sei „nicht nur zum Schlafen da“. Das war aber nicht so zweideutig gemeint, wie es klingt, sondern mehrdeutig in vieler Hinsicht. Verschiedene Facetten der Nacht und der Dunkelheit sollten in den folgenden Stücken auftauchen. Dabei ging es nicht um Lust und Liebe, sondern um die dunklen Seiten der Nacht, also um Angst und Gewalt, um Verlassenheit und Tod.
Schönheit und Furchtbarkeit der Dunkelheit
Danach betraten Robert Hunger-Bühler, charismatischer Bühnendarsteller des Schauspielhauses Zürich, und die Pianistin Seung-Yeun Huh die Bühne. Huh spielte die Nächtstücke op. 23 Nr. 3 Des-Dur und Nr. 4 F-Dur von Robert Schumann virtuos und teils rasend schnell. Vielleicht nicht ein Stück für die dunkle Nacht, aber für die sich übers Land legende Dämmerung als Auftakt der Nachtstücke. Hunger-Bühler las den ersten Brief aus E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“, ein Schauermärchen über einen brutalen Sandmann, der nicht die Kinder in den Schlaf, sondern den Vater aus dem Leben befördert.
Es folgten Anton Weberns „Sechs Bagatellen op. 9“, vom Streichquartett mit David Goldzycher (Violine), Cathrin Kudelka (Violine), Ursula Sarntheim (Viola) und Andres Sami (Violoncello) dargeboten. Das kurze Stück wurde vor und nach der Lesung von Edgar Allan Poes „Das ovale Porträt“ gespielt. Es überzeugte am meisten als Nachtstück, war sanft und mit seinen schrägen und unerwarteten Tonfolgen doch verstörend, Schönheit und Furchtbarkeit der Dunkelheit zugleich betonend. Poe, der Grossmeister des Horrors, durfte natürlich nicht fehlen, und er enttäuschte nicht, passend zur Mitte des Programms schlug es mit ihm zu Mitternacht.
Keine Sonntagsfahrt
Mit drei kurzen Auszügen aus Mary Shelleys berühmten Roman „Frankenstein“ wurde das literarische Programm abgerundet. Diese beiden englischen Texte hätte man dem Publikum durchaus im Original zumuten können. Ganz zum Schluss wurde Györgi Ligetis Streichquartett Nr. 1 „Métamorphoses nocturnes“ gespielt, ein Stück aus den 1950er Jahren, bei dem man sich an nichts festhalten kann: Es gibt keine wiederkehrenden Themen oder Motive, was das Stück abwechslungsreich, aber auch anstrengend macht.
Interessant war, wie den Geschichten aus dem 19. Jahrhundert zwei moderne Stücke aus dem 20. Jahrhundert entgegengestellt wurden. Die Reihenfolge der Stücke überzeugte sehr. Gegen Ende erhoben sich allerdings immer mehr Leute und gingen hinaus. Am Sonntagmittag hat man wohl weniger Sitzfleisch als sonst. Ligetis Streichquartett zum Schluss war ein wenig lang, und die ganze Veranstaltung mit knapp zwei Stunden ebenfalls, aber es lohnte sich. Im Mittagslicht schimmern weder Eulenaugen noch Sterne – umso mehr die Kunst in Form von sorgfältig ausgewählten und gekonnt präsentierten Stücken in Wort und Ton.