Geschichte als kollektives Phantasma

Die Veranstaltung

Was: Überblendungen. Das Zukünftige rekonstruieren
Wo: Shedhalle, Rote Fabrik
Wann: 08.10.2010 bis 31.12.2010
Bereich: Bildende Kunst

Die Autorin

Andrina Jörg: Studierende im des Masters vermitteln&publizieren an der zhdk, Redaktorin Aargauer Kulturmagazin JULI, Bildende Künstlerin, Kunstvermittlerin

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.

Von Andrina Jörg, 13.10.2010

Der schillernde Ausstellungstitel «Überblendungen. Das Zukünftige rekonstruieren.» deutet es bereits an: Das gemeinsame Konstrukt, welches wir Vergangenheit nennen, beeinflusst unser Verständnis für die Gegenwart und spurt eine mögliche Zukunft vor.

Die Vergangenheit ist anpassungsfähig, sie richtet sich in der Regel nach den Interessen der MachthaberInnen, welche danach trachten, sie zu ihrem Vorteil ins rechte Licht zu rücken. Die Mächtigen möchten die Geschichte in ihrem Sinn fortschreiben. Dass aber die eine grosse Erzählung nicht existiert, sondern viele kleinere Geschichten quasi demokratisch erzählt, vergegenwärtigt, reflektiert und in die Zukunft projiziert werden wollen, führen die 11 international zusammengestellten künstlerischen Positionen in der Shedhalle eindrücklich und sinnlich vor Augen.

Das mediale Nachleuchten des Kommenden

Mit Witz, Tiefgang und einer Portion Ungemütlichkeit überlagern die vorgestellten Werke das Heute mit dem Gestern und bieten dank ungewohnter Sichtweisen neuen Interpretationsspielraum vergangener Ereignisse. Sie lassen mögliche Zukunftsbilder blitzlichtartig aufleuchten, wie etwa die Arbeit «Remnants of the Future» (die Überreste der Zukunft) von Uriel Orlow, der eine verlassene, sowjetische Wohnsiedlung mit der Videokamera untersucht. Die Ruine, welche nur noch von Vögeln behaust wird, lässt laut Orlow eine «Halluzination von Geschichtlichkeit» aufscheinen. Der ausserirdisch anmutende Klang zum Videofilm, Frequenzen niedergehender Sterne, entrückt die Bilder zusätzlich in eine Sphäre, in der Raum und Zeit aufgehoben zu sein scheinen.

Unsere heutige Wahrnehmung von Raum und Zeit dagegen wird stark durch die beinahe omnipräsente Wirkmacht der Medien beeinflusst. Die versammelten Künstlerinnen und Künstler thematisieren denn auch auf unterschiedliche und vielschichtige Weise die Verquickung medialer Bilder, Gegenwartswahrnehmung und Geschichtskonstruktion.

Neu gemischte Chronologie

Daniela Comanis Arbeit «Ich wars. Tagebuch 1900 – 1999» zum Beispiel führt ein fiktives, sozusagen überpersonelles Ich chronologisch durch das Jahr. Erst mit der Zeit bemerkt man anhand der Einträge auf der 3 x 6 Meter grossen Leinwand, dass die Jahreszahlen nicht chronologisch zusammengestellt sind. In dem sich das Ich scheinbar willkürlich durch das letzte Jahrhundert schreibt, verschiebt sich unsere Perspektive auf das Weltgeschehen, lässt uns gleichsam zu Täterinnen, Mitwissenden und Zeugen der Gräueltaten und Errungenschaften der jüngeren Geschichte werden. So lese ich zum Beispiel, dass «Ich» am 3. September Opfer der Mafia in Palermo und am 4. September zum Präsidenten Chiles gewählt wurde.

Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit der unendlichen und unendlich schnellen Vervielfältigung von Pressebildern via Internet und Fernsehen, mit ikonografischen Schlüsselszenen medial verbreiteter Bilder oder mit Erinnerungen aus Kriegs- und Notzeiten.

Akustischer Overload

Die Ausstellung bietet auf mehreren Ebenen viel interessanten Stoff zur eigenen Auseinandersetzung mit Geschichte(n). Nicht wenige der Werke nehmen auf eine spezifische Situation Bezug und sind darum nicht immer leicht zugänglich. Sie bedingen einführende Hintergrundinformationen, die in Form von Textblättern auch mitgeliefert wird. Störend für die Lesekonzentration sind einzig die unterschiedlichen Geräuschkulissen, die sich im Ausstellungsraum zu einem ermüdenden Brei von Tönen vermengen. Die spannenden Arbeiten hätten eine sorgfältigere akustische Inszenierung verdient.

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