„Bitte, erzählt mir alles über Euch“

Die Veranstaltung

Was: Russische Volkspost oder das Lachzimmer für einen einsamen Rentner
Wo: Keller 62
Wann: 02.03.2010 bis 06.03.2010
Bereich: Theater

Die Autorin

Sabrina Zimmermann: Jahrgang 1987, studiert Germanistik, Geschichte und Spanische Literatur. Sie ist oft literarisch tätig und hat im Rahmen des Gymnasiums an mehreren Literaturwettbewerben Preise gewonnen.

Die Kritik

Lektorat: .

Von Sabrina Zimmermann, 9.3.2010

Drückt man die Türklinke des Kellers 62 nach unten und stösst die Tür auf, tritt man direkt ein, in die Welt des Ivan Zhuchov Sidorovich. Es ist eine kleine, etwas schäbige Welt. Eine abgebrannte Kerze auf einem kleinen Schreibtisch, der übersät mit leeren, beschriebenen und zerknüllten Papierbögen, in der Mitte steht. Eine Wollsocke und eine Teetasse leisten den Briefen Gesellschaft. Auf dem Boden liegt ein Akkordeon, an der Wand hängt das Portrait des russischen Staatsoberhaupts, von der Decke baumeln Briefumschläge.

Auf Sidorovich wartend und auf einem der rund 50 Sitzplätze dieses charmanten Kleintheaters sitzend, scheinen die Bühne und das sonstige Interieur des Kellers zu verschmelzen. Es ist ein stimmiges Bild. Gebrochen wird diese Harmonie bloss vom Blick aus Sidorovichs Apartment, auf eine Leinwand projiziert, eröffnet dieser Ausblick eine grässliche, eintönige Reihenhauslandschaft. Und schon beginnt man ihn zu bemitleiden, den armen Alten, ohne ihn überhaupt zu kennen. Man fragt sich, ob es in diesem Zimmer wirklich so lustig zu und her gehen wird, wie es der Titel des Stücks verspricht. Gespannt darauf, was Oleg Lips, Übersetzer, Regisseur und Hauptdarsteller der „Russischen Volkspost“, bietet, lehnt sich das Publikum zurück.

Skurrile Gestalten, leidenschaftliche Performance

Die etwas komische Gestalt, welche sich nach ein paar Minuten auf die Bühne schleppt, sich an den Tisch setzt und ohne ein Wort, zu schreiben beginnt, weckt zwiespältige Gefühle. Eine braune, an den Ohren abstehende Fellmütze, lange weisse Zotteln, eine schwarze Hornbrille – das ist Ivan Zhuchov Sidorovich. Man weiss nicht, ob man bei seinem Anblick einfach loslachen oder doch eher schreien soll, aber man mag ihn auf Anhieb. Den biographischen Vorspann zum glorreichen (Vor-)Leben des Rentners liefert ein origineller, schwungvoller Zeichentrickfilm, der so einiges preisgibt über den treuen Diener seines Vaterlandes.

Sobald er tatsächlich in Aktion tritt und das Stück in Gang kommt, stellt man fest, dass Sidorovich, anders als erwartet, für sein Alter recht aktiv ist. Er geht zwar nicht mehr aus dem Haus, doch performt er russische Volkslieder, tanzt zu ausserirdischen Technobeats und schreibt obsessiv Briefe. Und er empfängt regelmässig Post (von sich selbst). Der Präsident gratuliert zum Geburtstag, der Fernsehdirektor möchte ihn für eine Show gewinnen und Königin Elizabeth II. gesteht ihm ihre Liebe.

Ab und an schalten sich Lenin und die britische Königin ein. Sie ziehen in Gestalt zweier Fingerpuppen über Sidorovichs Gesundheitszustand her und diskutieren seinen Nachlass. Diese Videosequenzen wirken frisch und tragen zur Vielschichtigkeit der Inszenierung bei. An manchen Stellen sind sie jedoch überladen und wirken entfremdend. Ob dies nun Absicht ist oder nicht, sei dahingestellt.

Mein Freund, ich bin’s, der Tod

Monoton und trostlos, wie der Blick aus dem Fenster, wird der Abend nicht. Er ist bunt und abwechslungsreich, mit sehr vielseitigem, leidenschaftlichem Schauspiel (Oleg Lips), musikalischen Beiträgen (Gabriela Tanner), Videoeinspielungen (Isabelle Favez) und einer manchmal gewagten, aber über weite Teile gelungenen Inszenierung (Oleg Lips/Helmut Vogel). Die Briefe, welche (fast) die Hauptrolle spielen im russischen Theaterstück nach Oleg Bogaev, sind zum Grinsen, zum Kopfschütteln, zum Zähne knirschen. Wie ihr Verfasser. Einzigartig.

Und wenn Sidorovich dann endlich wirklichen Besuch bekommt, vom Tod höchstpersönlich, raffen wir uns auf, ein bisschen Leben zu erhaschen. Und wenn nicht um unserer, so wenigstens um seinetwillen.

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