«Chrüsimüsi» mit Esprit
Die Veranstaltung
Was: Kellner Lear
Wo: Sogar Theater
Wann: 20.05.2010 bis 30.05.2010
Bereich: Theater
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Anja Wegmann.
Von Christian Felix, 21.5.2010
Das winzige Sogar-Theater ist voll mit Stuhlreihen. Es bleibt rätselhaft, wo um alles in der Welt eine Aufführung vonstatten gehen soll. Ein eigentliches Bühnenbild ist nicht auszumachen. Ebenso wenig wissen die vier Schauspieler, die dann nach und nach zur Eingangstür hereinkommen, was sie spielen sollen. Gestern war es Faust, und heute? Urs (Widmer) hat ihnen vor zwei Minuten einen Stoß Blätter überlassen, mit «Chrüsimüsi». Damit verlagert sich das Stück «Kellner Lear» auf die Meta-Ebene, ein Kunstgriff, der in der Folge mehrfach effektvoll eingesetzt wird. Streckenweise ist das Stück über das Stück sogar stärker und präsenter als das Stück selbst.
Kellner statt König
Mehr als eine Abfolge von Sketches will «Kellner Lear» nicht sein – vordergründig. Bald stellt sich heraus, dass die einzelnen Szenen eng verzahnt sind und das Ganze von Leitmotiven durchwoben ist. Dazu gehört die Tragik alternder Schauspieler, die sich den Text des «Königs Lear» gar nicht mehr merken können, jetzt, wo sie alt genug wären, die Shakespeare-Figur zu geben.
Die Erstinszenierung durch Urs Widmer nutzt eine Ecke des «Sogar» sowie eine Bar, um eine Geschichte um zwei Kellner (René Ander-Huber, Helmut Vogel) zu spinnen. Die beiden sind alt. Uralt sogar, denn sie bedienten schon zur Römerzeit Gäste. Ihre Schenke ist längst abgewirtschaftet. Doch als Klaus Henner Russius und Graziella Rossi zum Personal stoßen, schwingt sich der Laden, dies aber bereits jenseits aller Realität, wieder zum großbürgerlichen Café-Restaurant empor, macht sogar dem legendären Zürcher Odeon Konkurrenz, das ja auch längst abgetakelt ist.
Alles Vergangenheit, nichts Zukunft
«Kellner Lear» spielt in einem flüchtigen Augenblick der Gegenwart, in die eine viel zu lange Vergangenheit hineinragt: Eine alte Schallplatte wird immer wieder gespielt. Die Menschen, die sie produziert haben, sind schon alle tot, seit Jahrhunderten tot! «So wird es uns auch ergehen», meint Klaus, hierauf Graziella: «Nein, du hast nie eine Platte gemacht.»
Urs Widmers Bühnenwerk ist komisch, vor allem in grotesken Situationen, doch in Wirklichkeit zum Verzweifeln hoffnungslos. In den traurigsten Momenten zeigt es seine Stärke, zum Beispiel wenn Klaus Henner Russius als sächselnder Ex-Stasi auf «Die Mauer», jedoch in Wirklichkeit in die Leere, starrt, und Helmut Vogel seinem Blick vergebens zu folgen sucht.
«Kellner Lear» handelt vom Alter, vom alternden Menschen, sei er Schauspieler (oder Schriftsteller) oder ausrangierter Kellner, und von Verlassenheit – verkörpert am prägnantesten durch Klaus Henner Russius. Helmut Vogel wiederum zeigt als Kellner eine beeindruckende schauspielerische Ausdruckskraft. Mit wenigen Gesten (und Gästen) lässt er die untergegangene Welt des Wiener Cafés wieder aufleben. Das heißt aber nicht, dass neben den Genannten René Ander-Huber und Graziella Rossi abfallen würden. Urs Widmers Inszenierung bringt alle vier Figuren zum Leuchten.
Und der Gast?
Wie nebenbei gibt «Kellner Lear» einen Einblick in den Kellnerberuf. Die Kellner stellen sich als Parabel auf Menschen heraus, die bedienen, oder zudienen: Menschen, die fremdbestimmte Lohnarbeit verrichten. «Du trägst das Bier immer von dir weg», erklärt René. Anders sieht es aus dem Blickwinkel des Gastes aus: «Das Bier kommt auf dich zu!» An anderer Stelle im Stück ist Bier gleich Erdöl, ergo Geld. Kein Wunder, dekliniert Helmut das lateinische Wort «Bonus»: Bonus, Boni, Bono, Bonum…
Vaudeville im klassischen Sinn, d.h. sprudelnde Unterhaltung, ist das Bühnenstück nicht. Dazu kommt es zu zähflüssig daher. Es verwundert auch, dass uns «Kellner Lear» manches veraltete Klischee, manche abgelaufene Pointe serviert. Graziella: «Ich bin 29, und das schon seit vielen Jahren.» Die Ankündigung eines Stücks in Vaudeville-Manier ist vielleicht eine ironische Untertreibung, denn «Kellner Lear» bringt uns ein weit reichhaltigeres Menu als Vaudeville. Man sollte es sich nicht entgehen lassen.