Eine aussergewöhnliche Aufführung

Die Veranstaltung
Was: Wir sind aussergewöhnlich II
Wo: Theater Gessnerallee, Halle
Wann: 20.03.2014 bis 22.03.2014
Bereiche: Gesellschaft, Performance, Theater
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Von Christian Felix, 22.3.2014
Kann man Kunsttheorie inszenieren? Diese Frage schwebt sozusagen über dem Bühnenspiel «Wir sind aussergewöhnlich II». Wobei die Thematik weitere Kreise zieht. Sie beleuchtet das Individuum in der zeitgenössischen, irgendwie noch immer demokratischen Gesellschaft und endet bei nichts weniger als der Selbstfindung. Eines ist klar: Kopf und Verstand sind bei der Aufführung gefordert. Dies obwohl auch Augen und Ohren gut bedient werden…
Protestantische Ästhetik
Zunächst erscheint ein streng gegliedertes Bühnenbild ganz in schwarz und weiss. Der Tenor Jakob Pilgram singt im schwarzen Anzug ein klassisches Liebeslied, begleitet von der Pianistin Judit Polgar. Sie trägt ein knallrotes Kleid. Es ist eine rationale Ästhetik, die den theoretischen Inhalt widerspiegelt. Genau so streng wie das Bühnenbild ist die Struktur des Stücks. Musik, Videoeinblendungen, Diskussionsteile. Der klar geordnete, wenn auch komplexe Aufbau des Stücks läuft präzise ab, wie am Schnürchen.
Wir sehen uns der protestantischen Ästhetik gegenüber, die den Anspruch erhebt, aus weniger mehr zu machen. Wenn man so will, enthält das Bühnenspiel auch die wesentlichen Bestandteile des reformierten Gottesdiensts: Gesang, Gebet und Predigt. Auch ein Liederbuch macht die Runde in den Sitzreihen, das heisst genauer: Es ist die Partitur. Man könnte sie zu einem hohen Preis erwerben und ihr damit einen Wert verleihen. Denn heute kaufte man nicht mit Geld Qualität. Heute ist Geld Qualität.
Demokratie und Populismus
Die Predigt halten Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger und der Philosoph Enno Rudolph, sozusagen. Die beiden sprechen über Quantität im Verhältnis zu Qualität. Ersteres führt schnurstracks zur Demokratie, die ja per Definition quantitative Entscheidungsmechanismen benutzt. Die grössere Masse entscheidet. «Demokratie ist der Despotismus der Mehrheit über die Minderheit»: So wird der Philosoph Immanuel Kant zitiert. Leuenberger ist aus seiner Erfahrung als Schweizer Politiker optimistisch. Er glaubt, dass ein Ausgleich zwischen Minderheit und Mehrheit möglich ist. Rudolph ist dadurch nicht davon abzubringen, die Demokratie eine schlecht geliftete alte Dame zu nennen.
Der Diskussion ist nicht nur mit dem Thema ein Rahmen gesetzt. Eine Sanduhr bestimmt auch ihre Länge. Dass Leuenberger die Uhr umzudrehen vergisst, ist eine der wenigen Pannen im Ablauf des Bühnenspiels. Man ist froh darüber. Disziplinierend wirkt nämlich auch der Aufbau des Stücks. Es besteht aus drei Akten mit den Titeln: «Quantitäten», «Populismus», «Subversion». Zu Nummer zwei, dem Populismus, führt ein Musikstück. Es beginnt ganz in der Tradition des Dadaismus mit gesungenem «Mähäää» und «Brrrr», erweitert sich dann mit Versatzstücken populärer Musikstücke zu einem durchkomponierten Wirrwarr.
Die Lieder, die wir kennen, erscheinen plötzlich albern. Leuchtende Farben und dann Videos erscheinen auf den Flächen im Bühnenhintergrund. Dann treibt ein Takt aus Whitney Houstons «I will always love you» das Elend auf die Spitze.
Die Massen der Aussergewöhnlichen
Wir sind beim stark lädierten, beziehungsunfähigen Individuum angelangt und zugleich beim nächsten Gespräch. «Populismus gehört ein Stück weit zur Demokratie,» bekennt Moritz Leuenberger und ertappt sich dabei, dass er selbst gewisse Methoden des Populismus gerne anwandte. Die Verführung, die politische List… Enno Rudolph sieht im Populismus die Verblendung der entmündigten Individuen bis hin zu einem bösen Erwachen. In einem Punkt sind sich die Gesprächspartner indes einig. Im Populismus steckt das Wort Volk. Ein abstruser Begriff, stellen beide fest. Wen umfasst das Volk? Wen nicht? Politiker? Minderheiten? Grosse Minderheiten, die nichts gegen eine ausländische Zuwanderung haben?
Je mehr heute vom Volk die Rede ist, desto weniger Menschen wollen dazu gehören. Inzwischen halten sich bald alle für aussergewöhnlich. Immer mehr tun alles, um sich abzuheben, sind dann aber genau in diesem Bemühen wieder identisch. Dennoch gerät die Gesellschaft (auch so ein Begriff) in die Krise (noch einer). Sie scheidet auseinander wie saure Milch. Der letzte Akt des Stücks «Wir sind aussergewöhnlich II» nimmt das unter dem Stickwort «Subversion» auf. Ein Musikstück wird vollkommen dekomponiert. Am Ende hören wir nur noch wilde Schreie, Sprechblasen, Töne, sehen Videos und flackernde Farben. Dann erklingt, fast schon unheimlich, Chopins Nocturne, Op. 27, Nr. 1.
Gefühlskälte
Kann man also Kunsttheorie und überhaupt Theorie inszenieren? Ja. Patrick Frank, der Gestalter des Bühnenspiels und der Regisseur Gian Manuel Rau beweisen es. Es ist ihnen eine beeindruckende Aufführung gelungen. Neue theoretische Erkenntnisse kann man vom Theater nicht erwarten, aber ein verfremdendes Licht auf Einsichten und Thesen, überraschende Bezüge zwischen Themen. In diesem Bereich brilliert «Wir sind aussergewöhnlich II». Das die Aufführung kühl wirkt, immer fordernd und nie gefühlsvoll, ist kein Vorwurf. Patrick Frank hat diese Form gewählt.
Zum Aufwärmen wird man nach dem Stück zu Wein, Brot und Käse geladen, oder, um in der Metapher zu bleiben: Zum Abendmahl.