Sonderfall Schweiz

Die Veranstaltung
Was: Sonderfall Schweiz
Wo: Internationale Kurzfilmtage Winterthur
Wann: 04.11.2014 bis 09.11.2014
Bereiche: Film+Fotografie, Internationale Kurzfilmtage Winterthur 2014
Kurzfilmtage Winterthur
Kulturkritik ist Partner der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur 2014. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Der Autor
Philipp Spillmann: 1989 in Zürich geboren. 2014 Living Cases Kurzfilmtage Winterthur.
Die Kritik
Lektorat: Martina Felber.
Von Philipp Spillmann, 19.11.2014
In einer aufgeschaukelten Zeit, am Drehkreuz zwischen Ecopop, Masseneinwanderungs-, und Durchsetzungsinitiative, zwischen neuem Europa und alteingeklebter Eidgenossenschaft, ist Personenfreizügigkeit das Wort der Stunde. Es beherrscht Abstimmungsparolen, Arena-Sendungen und Stammtischrunden. Üblicherweise als Standartkomponente eines Rezepts für makroökonomische Fünfgänge-Debatten dahingepfeffert, verschärft es eine Weltanschauung, die Betroffene auf ihren wirtschaftlichen Wert reduziert.
Beschämend an dieser (Neo-)Liberalismus-Logik ist nicht nur, dass sie die zur Debatte stehenden Menschen zu einem technischen Detail ihrer Argumentation degradiert. Sie dominiert auch die politische Rationalität der meisten aktuellen Migrationsdebatten.
Mit den Worten von Max Frisch
Der von Stefan Staub und Valerie Thurner kuratierte Kurzfilmblock mit dem (einem Zitat Max Frischs entlehnten) Titel «Es kommen Menschen», gibt eben diesen Blick auf die Menschen frei. Der 76-minütige Programmblock thematisiert die Zuwanderung in der Schweiz aus den Augen von Dokumentarfilmern und dokumentarischen Medienbeiträgen der letzten fünfzig Jahre. «Es kommen Menschen» handelt von Lebenslagen, Vorstellungen und Ansichten derer, über die als Migranten verhandelt wird. Aber auch von jenen Personen, die am anderen Ende der Debatte stehen: Politiker, Unternehmer, Leute aus dem «Volk».
Widersprüche, die Kopfschütteln auslösen
Der Block erzählt damit die Geschichte von Standpunkten: Ausländer als Fremde, die Angst vor dem Zerfall der helvetischen Identität, die «Das-Boot-ist-voll-Mentalität» der Neunziger oder die aktuell geführte Darstellung der Kosten-/Nutzen-Bilanz ausländischer Arbeitskräfte.
«Es kommen Menschen» besticht durch grosse Gefühle und feine Pointen. Man erhält Einblick in das Leben spanischer Gastarbeiter in den Sechzigern durch die Schwarz-Weiss-Reportage «Pour vivre ici» von Claude Goretta, erstarrt beim Rundschau-Rückblick zur Überfremdungsinitiative von 1974, schmunzelt beim charmanten Dokumentarfilm «Kanton Jugoslawien» von Nikola Ilic und fasst sich an den Kopf beim Rundschaubeitrag «Streit um Zuwanderung» von 2014. Zudem setzen zwei Beiträge über prominent unerwünschte Tierarten; Wölfe und schwarze Schafe, auflockernde Akzente.
Man sieht wie Menschen in menschenunwürdigen Behausungen wohnen. Und man sieht Einwanderer, die man am liebsten knuddeln will. Man sieht einen Adolph Ogi, der nicht begreifen will, warum ein Land wie die Schweiz Kriegsflüchtlinge aufnehmen soll und der behauptet, die fliehenden Menschen seien selbst Schuld an ihrem Krieg. Man sieht wie die Kantone Zug und Schaffhausen Konzerne mit Steuerprivilegien an Land ziehen. Und man sieht, wie sich dieselben Kantone dagegen wehren, dass mit dem Geld der Firmen auch Leute kommen, die für diese Firmen arbeiten.
Dem Programm gelingt es, sein Versprechen einzulösen und noch mehr – den Konflikt von der Seite entscheidungsmächtiger Schweizer darzustellen. Migranten sind nicht auf eine Opferrolle reduziert. Leider bleibt ihre Menschlichkeit bis zu einem gewissen Masse darauf beschränkt. Im Gegensatz zu den dargestellten Schweizern sind die gezeigten Migranten stets integrationsbedürftige, -willige oder einfach vorbildliche Menschen. Dass sie als Menschen auch Abgründe, Laster und Vorurteile haben können – und dürfen sollten, wird weder angesprochen, noch angedacht. Sie bleiben im Gesamten was sie in den einzelnen Filmen schon sind: Figuren in einem massenmedialen Diskurs.