Intelligenz: sehr gut. Persönlichkeit: sehr stur.

Die Veranstaltung
Was: Rabih Mroué: Riding on a cloud
Wo: Theater Spektakel, Nord
Wann: 19.08.2014 bis 21.08.2014
Bereiche: Theater, Theater Spektakel 2014
Theater Spektakel
Kulturkritik ist Partner des Theater Spektakels 2014. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Die Autorin
Esther Becker: Nach einem Theaterstudium an der Zürcher Hochschule der Künste und der Hochschule der Künste Bern studiert Esther Becker momentan literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Sie arbeitet als freie Autorin und Performerin (www.bignotwendigkeit.de) und schreibt regelmässig für die Fabrikzeitung der Roten Fabirk Zürich.
Die Kritik
Lektorat: Carmen Beyer.
Von Esther Becker, 9.9.2014
Er sei konzentriert und diszipliniert, wurde dem Protagonisten Yasser Mroué auf dem Kindergartenzeugnis bescheinigt, welches wir per Video zu sehen bekommen. Weiter heisst es da «Intelligenz: sehr gut. Persönlichkeit: sehr stur.» Dasselbe gilt für die Video-Lecture Performance «Riding on a cloud». Mit stoischer Ruhe wird in kapitelartiger Struktur Yassers Geschichte erzählt, der nicht zufällig denselben Nachnamen wie der Regisseur des Stücks trägt. Yasser ist der jüngere Bruder des libanesischen Regisseurs Rabih Mroué.
Davor und danach
Der Abend offenbart seine Mittel, sie liegen sichtbar auf dem Tisch neben der Leinwand, an dem Yasser sitzt: Tongerät, DVD-Spieler, ein Stapel DVDs. Sie beinhalten eine Ausswahl der Filmaufnahmen, die Yasser gemacht hat, auf Anraten der Ärzte. Nicht aus künstlerischen Gründen. Yasser wäre gern Musiker geworden. Im Verlauf des Abends legt Yasser eine nach der anderen DVD ein, bis der Stapel sich am Schluss in umgekehrter Reihenfolge in der anderen Ecke des Tisches wiederfindet. Das alles macht er nur mit der linken Hand, die rechte ist gelähmt seit «der Verletzung». Als 17-Jähriger wurde durch einen Kopfschuss seine linke Hirnhälfte geschädigt.
Vor und nach der Verletzung, das ist seither Yassers Zeitrechnung. Nach der Verletzung muss Yasser wieder lernen zu verstehen und zu sprechen. «Als ich mit dem Studium anfangen wollte, musste ich den Kindergarten wiederholen.» Auf der Leinwand ein Lern-Spiel: Was ist das? Zu der Abbildung eines Stifts, eines Messers, einer Kassette etc. werden die unterschiedlichsten Begriffe eingeblendet, als letzter «Whatever».
Was ist das?
Was ist das?, mag man sich auch als Zuschauer fragen, angesichts der Fülle von Material, dem zu folgen man sehr wach sein muss. Verschiedene Textsorten (Gedichte, Liedtexte, Dialoge) live gesprochen, ab Band und als Schrift eingeblendet; Musik, Geräuscheinspielungen. All das parallel zum Videomaterial, das Yasser zeigt, wie er im Bett liegt, wie er mit fünf Fingern Klavier spielt, wie seine gelähmte Hand unter Schmerzen in eine hölzerne Form in Normalstellung auseinandergespreizt wird. Familienfotos –eine grosse Familie, alle Kommunisten, «das liegt bei uns im Blut, nicht im Kopf»– Fernsehrauschen, Schädelscans und Aufnahmen des Hausdachs, von dem aus der Scharfschütze auf Yasser geschossen hat.
Man wird erinnert, was das ist, die Performance verweist immer wieder auf ihre eigene Entstehung. Etwa, wenn Yasser erzählt, dass Rabih, der ja als Regisseur ja das Sagen habe, von den 100 Filmen nur 20 ausgewählt habe, Yasser hingegen hätte gern alle gezeigt.Auch verweist sie auf das Theatermachen an sich, beispielsweise das Thema der Repräsentation. Yasser hat Mühe damit, in Fotos erkennt er nur bemaltes Papier, nicht aber den abgebildeten Gegenstand. Ins Theater geht er kaum, da er nicht verstehen konnte, dass das Bühnengeschehen nur gespielt ist. Es war für ihn ein Schock, wenn sich die Leiche beim Applaus verbeugte. Und jetzt steht Yasser da vor uns und repräsentiert sich selbst. «Meine Gedanken, aber nicht meine Worte. Meine Worte, aber nicht meine Gedanken». Die Zuschreibung fällt im Verlauf des Stücks immer schwerer. Wessen Perspektive ist das jetzt? Ist das Fakt oder Fiktion? Eine Überforderung, vielleicht ähnlich wie Yasser sie erlebt hat, als der nach der Verletzung als Erstes nur die Augen bewegen konnte. Er wusste, dass er noch existiert, da er sah, wie andere Menschen vorbeigehen.
Solitude
Der Gefahr kitschig, oder rührselig zu werden, entgeht der Abend immer wieder, einerseits mit warmem Humor, andererseits mit den stetigen Meta-Verweisen. Billie Holidays «Solitude», untermalt die Einsamkeit und Hilflosigkeit, die einen gen Ende als Zuschauer beschleicht, allein gelassen mit diesem ambivalenten Einblick in ein Leben, allein gelassen mit der beklemmenden Erkenntnis, wie konstruiert und fragil unsere Rezeption ist. Erlösend dann der eingeblendete Dialog, in dem die Brüder ihre Zusammenarbeit verhandeln. Einen Tontechniker, als der sich Yasser anbietet, brauche Rabih nicht. Aber ob er sich vorstellen könne, in einem Stück über seine Geschichte sich selbst zu spielen? «Wir erfinden deine Geschichte». Er selbst habe das ja schon für zahlreiche seiner Performances so gemacht.
Der Schluss ist so simpel, wie berührend: Die Brüder spielen zusammen Gitarre; d.h., Yasser greift die Akkorde und Rabih schlägt die Seiten.