Moralisches Mashup nach Molière

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Molière - Menschenfeind
Wo: Theater der Künste, Bühne B
Wann: 16.01.2014 bis 25.01.2014
Bereiche: Performance, Theater

Die Autorin

Esther Becker: Nach einem Theaterstudium an der Zürcher Hochschule der Künste und der Hochschule der Künste Bern studiert Esther Becker momentan literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Sie arbeitet als freie Autorin und Performerin (www.bignotwendigkeit.de) und schreibt regelmässig für die Fabrikzeitung der Roten Fabirk Zürich.

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Esther Becker, 21.1.2014

«Wo befinden wir uns?», wird von den Schauspielern gefragt. Wir befinden uns auf der Bühne B des Theaters der Künste, einer Art Blackbox, in die Martin Holzhauer wiederum eine kleine Blackbox eingebaut hat. Links davon warten Möbel und Requisiten, rechts Kleiderstangen voll Kostüme auf ihren Einsatz. Ebenso sieben Darstellerinnen und Darsteller. Ausserdem noch ein paar Stativscheinwerfer und Kameras. Auf kleinen Monitoren in einem Wandregal sind parallel Bilder der Live-Kameras und vorproduziertes Material zu sehen, der Ausschnitt scheint meist derselbe, die Bühne auf der Bühne…

Wo befinden wir uns? «Planet Erde, Europa, Frankreich, Paris», lautet ein Vorschlag, «Zürich», ein anderer. Man einigt sich auf eine Pariser Wohnung. Wie diese aussieht, wird detailliert beschreiben, die Bibliothek reicht von Sarrazin über de Sade bis hin zu Greys «Die Juliette Society». Dieses Werk taucht später als Bühnenrequisit auf, ebenfalls ein «Menschenfeind» in Reclam-Ausgabe, aus der dann vermeintlich spontan auch vorgelesen wird. In der Manier eines polizeilichen Profilers, mit Taschenlampen, Gummihandschuhen, Absperrband wird der Tatort untersucht und das Verbrechen rekonstruiert: Jemand hat die Wahrheit gesagt, hat an etwas geglaubt!

Ambitionierte Collage

Was wir sehen, ist geschickt collagiert, fordert den Zuschauer in dieser Mehrbödigkeit aber auch ordentlich heraus. Als Absprungbrett in die Stückhandlung dient eine mit Anglizismen und Kalauern bespickte Profiler-TV -Serien Persiflage des Duo infernale Peter und Frank (Jürgen Herold und Julian Boine). Nun springt in einer regelrechten «Profilerattacke» Boine als Oronte in die Szene, in der gerade Alceste seine Dichtung kritisiert. Weiter geht es mit einer Unten-ohne-Gesangseinlage (Britneys «Oops, I did it again»), bei der wir allerdings nichts zu sehen bekommen, da sich der Schauspieler sein Genital zwischen die Beine geklemmt hat. Verwirrspiele und Rollenbrüche aber auch dazwischen. Wer spielt Alceste? Der «afro american» (Patrick Balaraj Yogarajan)? Geht nicht, also gibt Raphael Tschudi den Misanthrop in dieser ambitionierten Collage.

Eine Collage nach Molière, so könnte man das Produkt nennen. Das Wörtchen «nach» deutet hier auf eine fast unterbruchslose Kette von Einsprengseln von zeitgenössischem Fremd-Text bzw. -Material. Die Szenen, die dadurch entstehen, sind nicht einfach zu beschreiben. Ein White-Trash-Männerabend mit Pädophilenwitzen und Vergewaltigungsphantasien? Ein Mädelabend mit chorischem Orgasmus und hymnischen Grey-Zitaten? Sicher ist: Die «zeitgenössischen» Szenen kommen über eine Nummernrevue nicht hinaus und entwickeln keine eigene Kraft. Das Original verkommt dabei zum blossen Stichwortgeber, die Molièrsche Handlungsebene trägt, so zerpflückt, das Stück selber auch nicht mehr.

Alternative Dokumentartheater

«Vielleicht machen wir besser Dokumentartheater?». – Die Frage wird während eines Umbaus der Bühne gestellt. Als Antwort hören wir eine Tonspur durch die Lautsprecher. Ein Passant versucht dabei zu erklären, was ein Whistleblower sei.. Dokumentarisches Material wird auch in Talkshow-Nummern mit Esther Wyler (grossartig: Stefanie Mrachacz) und Daniel Vasella verbraten. «Alle wollen sie das Wissen. Aber den Träger des Wissens will niemand.» Wie die Requisiten, so kommen auch die DarstellerInnen reihum zum Zug. Sie dürfen dann zeigen, was sie können. Und das ist einiges, die Ensembleleistung ist stark! Doch Sebastijan Horvats Versuch eines Mashups des Klassikers mit Diskurstheater ist ambitioniert – und bleibt dabei leider oberflächlich. Die selbstreferentiellen Monologe von Mrachacz und Yogarajan über die Diskriminierung als Deutsche in der Schweiz, bzw. als dunkelhäutiger Schauspieler an deutschsprachigen Theatern: interessante Versatzstücke, die aber im ganzen Chaos untergehen. Immer wird noch eins draufgesetzt und so geht dem Abend irgendwann die Luft aus.

«Eigentlich ist er cool»

Alcestes Probleme als Whistleblower der feinen Gesellschaft bleiben Behauptung, Philintes (Patrick Slanzi) Botenbericht der Gerichtsverhandlung geht im Slapstick-Flirt mit Eliante (Denise Hasler) unter. Generell wird die Stückhandlung auf die Liebesgeschichte reduziert, Alceste und Célimène (Sophie Hutter) frönen ihrem Rock’n’Roll-Eifersuchtsdrama mit viel Geschrei, Gefummel, und freigelegten Nippeln. Der Entscheidung, dass Alceste am Ende die Stadt verlässt, fehlt in der Inszenierung am Theater der Künste die politische Dimension. Beziehungswiese sie wird zu stark vereinfacht. «Eigentlich ist er cool», heisst es zu Beginn über Alceste. Und diese Haltung entspricht exakt der (zu deutlichen) Moral der zweistündigen Geschicht’: Sei cool, und sag deine Meinung, auch wenn das nicht immer so gut ankommt.

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