Dem Lapsus verschrieben

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Marco Tschirpke: Am Pult der Zeit
Wo: Im Hochhaus, Limmatplatz
Wann: 24.01.2014 bis 25.01.2014
Bereich: Theater

Die Autorin

Carmen Beyer: geboren 1986 in Berlin-Brandenburg, derzeit Studentin im Masterstudiengang «Kulturpublizistik» an der Zürcher Hochschule der Künste.

Die Kritik

Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben vom Migros-Kulturprozent (siehe Unabhängigkeit).

Von Carmen Beyer, 27.1.2014

Etwas unscheinbar wirkt er auf der Bühne «Im Hochhaus»: Grau gekleidet, daneben der schwarze Klavierflügel. Doch wenn Kabarettist Marco Tschirpke beginnt, mit verschmitzen Lächeln schlitzohrige Verse ins Mikro zu schleudern, daraufhin auf dem Piano recht unverschämt musikalischen Selbstverständlichkeiten den Garaus macht und dann ganz beiläufig bemerkt, man könne sich die Suche nach dem Faden im Programm getrost sparen, den gebe es nämlich nicht – spätestens dann dämmert es dem Zuschauer: Rechnen Sie mit nichts, seien Sie aber auf alles gefasst.

Könner der (un)willkürlichen Verfehlung

Dabei hat sich der Berliner für sein viertes Soloprogramm «Am Pult der Zeit», mit dem er für zwei Tage auf der Kleinkunstbühne des Migros Kulturprozent gastierte, dem Rat des Grossmeisters Goethe bedient: Nicht am Sujet überheben solle man sich, sondern lieber erst den kleinen Dingen zuwenden. Wie wäre es beispielsweise mit einem Gedicht übers Staubwischen? Allerhand solcher aberwitziger Alltagslyrik findet sich in Tschirpkes selbstgeschriebenen Texten und komponierten Liedern. Seine Lapsuslieder – wie er seine Kurzkompositionen bezeichnet – überschreiten selten die Minutengrenze. In ihrer Kürze sprühen sie vor Scharfsinn und Frechheit in Klang und Wort: Virtuos werden angefangene Phrasen zerstückelt, bricht eine Stimmung in die andere. Tschirpkes Spiel ist selten absehbar und stattdessen durchsetzt vom Zögern und Zaudern. Nicht selten lässt er eine Melodie mit Vollbremsung an der Wand enden und zudem reichert er alles durch gewiefte Verse an. Mal mit, mal ohne Reim bringt jedes Wort eine Wendung und reisst dem aufgebauten Sinn plötzlich den Boden weg.

Dabei wirken viele Details improvisiert und scheinen aus dem Moment heraus zu entstehen. Zum Beispiel, als ihn ein Handyklingeln aus dem Publikumsraum spontan zu einer furiosen Improvisation am Instrument inspiriert. Doch bei allem Zaudern und all den losen Blättern, die hier und da etwas achtlos auf den Bühnenboden fallen, der Lapsus (Anm. d. Red.: lat. ungeschickter Fehler; Ausrutscher) ist nur bedingt Programm. Sowohl die gekonnt verknappten Sprachwitze als auch das Klavierspiel strahlen von einer Präzision, die das Gegenteil beweist und Tschirpkes Expertise verrät. Tonsatz und Klavier hat er an der Universität studiert, um sich dann eine eigensinnige Mischung zu finden, die stark an Freestyle-Jazz-Elemente erinnert.

Am Pult der Zeit gestanden

Dabei ist ihm vom klassischen Musikstück zum weichgespülten Schlager und vom Staubwischen über Altmeister der Literatur nichts heilig. Kleine und grössere Unverschämtheiten streut Tschirpke ins Programm,«verbessert» beispielsweise Goethes Gedichte oder lässt in seinen Versen Günter Grass und das Kleinkind auf dem Töpfchen beglückt gleich viel «ausdrücken». Dann wiederum verbindet er im Witz kleine Zufälligkeiten mit großen Geschichtsereignissen und erklärt auf unmögliche Weise das Grosse aus dem Kleinen heraus. Zum Beispiel, wenn die Erinnerung an einen Wassertropfen, der beim letzten Regen in seinem Nacken landete, zur Köpfung Ludwigs IX hüpft.

Das ist kein Humor, der voraussehbar ist oder sich in die üblichen Kabarettthemen einordnen lässt. Daraus erklärt es sich, dass Tschirpke auch mal feixend seine Hilfe anbietet und um Fragen bittet, wenn der Witz am Unverständnis hängen bleibt. Die Pointe steckt genau hier: Im intelligenten Umgang mit dem Zuschauer und seinen Erwartungen. Fast könnte man sich als Schüler fühlen, der die kleinen Sauereien im Scherz des Lehrers geniesst. Dabei nimmt er sich selbst jedoch alles andere als ernst und bescheinigt dem Publikum zutiefst selbstironisch: «Sie müssen nicht alles witzig finden. Darum geht es schon lange nicht mehr»!

So folgt man Marco Tschirpke amüsiert «Am Pult der Zeit» durch unnützes Wissen und lässt sich gerne vom Sprachwitz über die doppelten Böden hinwegführen. Die Welt will er dabei nicht erklären – und tut es auf eine Art doch. So klein die Sujets der Alltagslyrik, so ungeheuer kurz die Lieder; am Ende verrät er uns vieles über uns selbst – und würde das mit einem verschmitztem Lächeln ganz sicher bestreiten.

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