Locarno zum Letzten - Abschlussbericht vom 67. Internationalen Filmfestival

Filmfestival Locarno
Kulturkritik ist am 67. Filmfestival Locarno. Der Filmkritiker Andy Eglin begleitet das Festival und berichtet live.
Der Autor
Andy Aguirre Eglin: Filmkritiker, Autor und Kulturjournalist.
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Von Andy Aguirre Eglin, 9.9.2014
Die Luft ist raus, der sommerliche Hype zu Ende. Der Droge Film folgt der Kater. Die Nähe zum Fernen weicht wieder der Ferne zum Nahen. Der kleine Alltag hat die Piazza Grande wieder. Wer jetzt nicht den Zug besteigt, bei dem macht sich Grabesstimmung breit. Die Südprovinz fällt wieder in ihren Dornröschenschlaf der Gerechten, jener Lokalpolitiker, die päpstlicher als der jetzige Papst Roman Polanski die Tür wiesen.
Die Rede zum Begräbnis der Hochkultur überlassen wir nicht Festivaldirektor Carlo Chatrian, von dem man nie weiss, wenn er auf die Bühne stakt, ist er ein Tanzbär mit aufziehbarem Federwerk, spricht er auswendig Gelerntes: «Buona sera Piazza Grande! Buona sera amici del cinema: Cinema è sempre emozione!» – oder ziert seinen jugendlichen Lockenkopf genialische Bescheidenheit. Er weilt auch schon in Venedig. Wir aber wollen am Grab des 67. Internationalen Filmfestivals von Locarno noch einmal einige Hochs und Tiefs Revue passieren lassen des schon Abgeflaggten, dass es etwas länger lebe als nur zwei vergangene Wochen:
«Fils de» (Pierre Gustave Hervé, Frankreich 2014) – Section Signs of Life
Sie nennen sich vom San Fernando Valley bei Las Vegas bis in die Pariser Rue du Château d’Eau «Acteur» oder «Actrice». Denn ihre Schauspielkunst gilt dem «Akt». Sie spielen dabei auch Theater, agieren in einem zweiten und dritten Akt, denn sie können immer und überall, was kaum der bettläufigen Realität entspricht.
Erotik war immer ein Grenzgebiet der Kunst. Seit man diese vom Leben trennt. Sie fand auch immer wieder Abbildung im Sakralen. Im Barock entkleideten die Künstler den Himmel voll griechischer und römischer Götter, legten den Figuren aus klassischen Sagen da und dort einen knappen Schleier über das Verschämte. Es war nichts anderes als der damalige Porno, woran sich das Publikum in den Salons, ja selbst noch in Kirchen ergötzte.
Bis der Maler Gustave Courbet 1866 mit seinem berüchtigten Bild Der Ursprung der Welt zensurlos zeigte, was Lustgefühl und biologische Sache ist, woher die Fils de immer kommen. Doch die Geschichte dieses Bildes illustriert weiterhin den Zwiespalt der Gesellschaft: Entstanden im Auftrag eines türkischen Diplomaten, der auch das Türkische Bad von Ingres besass, ein weiterer Klassiker der erotischen Malerei, ging Der Ursprung unter einer hölzernen Abdeckung, zu öffnen nur mit Schlüssel, über abenteuerliche Stationen 1955 an Jacques Lacan.
Obwohl sich der Psychoanalytiker als Aufklärer profilierte, liess er über dem Ursprung ebenso einen verschiebbaren Rahmen bauen, wozu sich Sigmund Freud wohl im Grabe drehte, der vorne eine harmlose Landschaft zeigte. Erst 1988 (20 Jahre nach 1968!) wagte es das Brooklyn Museum in New York, das Bild L’Origine du monde öffentlich zu enthüllen. Seit 1995 wird es im Pariser Musée d’Orsay streng bewacht. Denn im Juni 2014 kam es erneut zum Skandal, als sich eine junge Künstlerin ebenso nackt mit geöffneten Beinen vor das Motiv ihrer Vulva setzte als ein bewusster Akt der Vermittlung zwischen Kunst und Wirklichkeit. Obschon sich das Publikum solidarisierte, wurde sie verhaftet.
Wie die Geschichte der Bildenden Kunst zeigt auch jene des Films immer wieder den menschlichen Drang und Gang entlang gesellschaftlicher Tabus und darüber hinaus. Dagegen ist die stets wieder aufflackernde feministische Por-No-Debatte nichts anderes als ein weiterer, ethisch verhüllter Abwehrreflex einer ebenso tief ankernden repressiven Moral, die quer durch alle Religionen und Philosophien letztlich nur das Patriarchat bedient mit der Forderung nach Wiederverhüllung des Natürlichen – des Ursprungs des Lebens.
Auch selbstbestimmte SexarbeiterInnen und PornodarstellerInnen stehen aus-serhalb dieser Moral. Dabei bringen sie diese nur in extremis auf den Punkt: Der Mensch als Objekt, kaum je Subjekt des Kapitals. Menschenwürde rettet sich so nur in eine bessere «Selbstwertschöpfung», im höheren Preis für die eigene Haut, statt sie an einem unterbezahlten Arbeitsplatz verkaufen zu müssen. Nicht nur: In der Gegenkultur der ‚amoralischen’ Community findet auch Lebenslust statt, die wiederum einem libertären Bürgertum als idealisierte Projektionsfläche dient für unerfüllte Wünsche. Es ist nicht nur deren Sehnsucht der Haut, sondern auch nach einer freieren Sprache für die Sexualität, nachzulesen in Paul Nizon’s Das Jahr der Liebe (1981), bei Gabriel García Márquez oder Jorge Amado. Ein Gewinn an Selbstverständlichkeit, welche das «Milieu» allerdings in einen neuen Kerker einschliesst mit dem Tabu für das Romantische. Dabei träumen wohl die meisten Sexworker und Porno-«SchauspielerInnen» von einer bürgerlichen Existenz, vom Aus- und Einstieg …
Fils de von Pierre Gustave Hervé stellt diese Frage nach der ‚Entfleckung’ von ‚Schuld’: Was meinen die Kinder Enora et Léni des Filmregisseurs, Pornoproduzenten und immer noch -darstellers ‚HPG’ dazu, dass ihr Papi für ihr Wohl mit seinem robusten Ding «schauspielert»? – Kann er zurück in ihre ‚Unschuld’? Vor dem Lichterlöschen Kinderbücher vorlesen? Und wie gestaltet sich das reale Liebesleben, wenn der Ehemann von Gwenaëlle Baïd, sie sind seit 7 Jahren verheiratet, bereits mit über 600 Partnerinnen immer noch beruflich «verkehrt»?
Während die ‚Yellow Press’ das Privatleben der Hollywood Celebrities mit Heerscharen von Paparazzi ausleuchtet, bleiben die Teilnehmer der «Gonzo»-Filmindustrie, obwohl inzwischen ebenso ertragsstark wie die honorigen Major Studios, anonym. Niemand fragt nach ihrem realen Leben. Dabei tragen viele der Akteure einen Ring, haben Kids, sind alleinerziehende Mütter. Sie bedienen eben handfestere erotische Träume im Kämmerlein, dessen Stille privatimer ist als der manchmal groteske Lärm in den Kinosälen der Hochglanzproduktionen aus der anerkannten Traumfabrik. Naturgemäss ist der künstlerische Aufwand und Gehalt einer Pornoproduktion in den wenigsten Fällen vergleichbar. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um die Grenzüberschreitung eines sozialen Tabus.
Es gibt in der etablierten Filmgeschichte des Autorenkinos berühmte Beispiele, womit sich das libertäre Bürgertum nach dem kulturellen, westlichen Umbruch von 1968 den Protagonisten und Inhalten des Milieus annäherte. Worin die romantische oder abenteuerliche Liebe nicht mehr nur emphatisch angedeutet, sondern physisch vollzogen wurde. Den Anfang machten improvisierte «Trash»-Filme aus dem Pop-Art-Underground von The Factory des Andy Warhol mit den alternativen Superstars Viva und Joe Dallesandro: Blue Movie, Flesh (1968), Trash (1970) und Heat (1972) erhoben das Geschlechtliche ebenso wie die Langeweile und Warhol seine seriellen Campbell’s Suppendosen zum würdigen Abbild des menschlichen Alltags. Nicht dessen Erhöhung und Stilisierung war das Ziel, sondern die Wahrnehmung des Gewöhnlichen als Sensation. Es war ein Protest gegen alles Etablierte, nutzte aber gleichzeitig gerissen die Mechanismen der Eitelkeit einer kulturbeflissenen Elite. Dabei emanzipierte der schmucklose Mitschnitt von Sexualität diese von ihrer üblichen Idealisierung, um sie nicht zeigen zu müssen, um sie rosarot verklärt weiterhin verdrängen zu können.
Es folgten 1972 Der letzte Tango von Paris (Bernardo Bertolucci, Italien) mit Marlon Brando und Maria Schneider bei der Verwendung von Butter für nicht gezeigten Analverkehr, 1974 Les Valseuses (Bertrand Blier, Frankreich) mit Isabell Huppert, Miou Miou und Gérard Depardieu, wobei ein Kind entstanden sein soll. 1976 drehte Nagisa Oshima L’Empire des sens (Japan/Frankreich), worin sich ein Glied regt, was das Meisterwerk auf den Index brachte. 1986 zeigte der italienische Filmpoet Marco Bellocchio in Il Diavolo nel corpo einen echten ‚Blow Job’ (Kritiken umschrieben diesen bildungsbürgerlich als ‚Fellatio’) einer enthusiastisch natürlichen Maruschka Detmers, die danach 6 Jahre keine Rolle mehr bekam. Und Bellocchio wurde damals als Anwärter auf die ‚Palme d’Or’ vom Filmfestival in Cannes ausgeladen, weil er sich weigerte, diese Szene wegzuschneiden. 1986 versuchte Catherine Breillat in Romance (France) die klassische Trennung des Autorenfilms zum Schmuddelkino zu durchbrechen mit dem Pornostar Rocco Siffredi, der auf dem Set wider Erwarten wegen der Kluft zur intellektuell überlegenen Regisseurin erst ‚versagte’. Der Theaterregisseur Patrick Chereau doppelte nach mit Intimacy (Frankreich, 2001), worin sich ein Liebespaar zum anonymen Stelldichein trifft, bis diese ‚Insel’ erotischer Seligkeit von ihrer Alltagsidentität eingeholt wird.
All diesen Beispielen aus der ‚Skandalgeschichte’ des Films ist gemeinsam, dass sich anerkannte Filmschaffende und Künstler in eine Tabuzone vorwagen, wie Salonlöwen sich den Damen auf der Strasse nähern. Sie schnuppern am gesell-schaftlich Verruchten, dem sie eine grössere Freiheit andichten. Kaum je gelang es jedoch den Damen und Herren von der Strasse, hier vergleichsweise den Stars des Pornofilms, in die etablierte Kunst aufzusteigen.
Das Internet macht aber auch dies möglicher. Mit der rasanten Verbreitung von Pornofilmen in die Schlafzimmer hat die Pornografie einen nie dagewesenen Konsum erreicht, was allerdings noch nicht identisch ist mit ihrer Akzeptanz: Dennoch ergaben Umfragen in Frankreich eine Verbreitung bei bis 30jährigen beider Geschlechts von gegen 50%. 2014 titelte DER SPIEGEL sein Aprilheft (15) mit «Jugend forscht» – auf dem Cover ein junger Mann wiederum vor dem Ursprung der Welt, nun auf dem Flachbildschirm: «Jugendliche beziehen heute ihre sexuelle Bildung aus dem Internet. Ist das gut so? – Droht dem Abendland Gefahr? Muss die Pornogesellschaft auf die Couch? – Sexualforscher plädieren für einen entspannteren Umgang mit der Flut der Nacktfilme.»
‚Pornoschick’ heisst das Phänomen des sozialen Aufstiegs einer Branche aus den Suburbs von L. A. Das etablierte Hollywood öffnet seine Türen: Regisseur Steven Soderbergh (u.a Sex, Lies, and Videotape 1989, Erin Brockovich 2000, Ocean’s Eleven 2001, Che 2008) drehte mit Sasha Grey, ‚Performer oft he Year 2008’ für krude, aber selbstbestimmte ‚Gangbangs’, 2009 The Girlfriend Experience. Grey verfolgt inzwischen eine zweite Karriere zwischen Art Gallery, Rock Music und dem ‚American Independent Film’, wird am Sundance Festival auf dem roten Teppich begrüsst und gibt Exklusivinterviews in Hochglanzmagazinen. Sie ist bei weitem nicht die einzige. In Deutschland holte die türkischstämmige Sibel Kekili mit der Hauptrolle in Gegen die Wand (Fatih Akın, 2004), ihrem ersten Dreh ausserhalb des Porno, gleich einen ‚Bambi’. Wofür andere Schauspielerinnen ein Jahrzehnt anstehen. Heute spielt sie zur Prime Time auf ARD im Tatort eine Kommissarin. Innerhalb einer Wohnung ist das ein kurzer Weg, in der Medienwelt eine Interkontinentalreise, was beweist, die Abwehrfront aus bigotter oder fundamentalistischer Moral löst sich auf. Alice Schwarzer und die Kirche werden klein beigeben, weil ihnen das Fussvolk in die Normalität von Porno enteilt.
Fils de, die Kinder von HPG, werden sich mit dem kommerziellen ‚Gliedwerk’ ihres Vaters arrangieren, womit er seinen anspruchsvollen Autorenfilm querfinanziert mit dem Thema seines Ausstiegs aus dem Porno und Einstiegs in eine zweite ‚Nouvelle Vague’ in Frankreich. Mit einer beweglichen Kamera und einem authentischen Blick in den urbanen Alltag zwischen Küche, Bett und Arbeit, dem Leben auf den Leib geschaut. Mit einer edlen Tonspur zum Blues der Existenz. Dennoch bleibt die Frage offen: Spaltet sich die Seele vom Körper, wird sie durch Porno stumpf? – Verätzt serielle, anonyme ‚Lust’ ganzheitliche Liebesfähigkeit? – Nach etlichem Streit schieben die Eltern Hervé/Baïd ihren Kinderwagen aus dem Film, fassen sich wieder bei der Hand: «Wir bleiben zusammen.»
«Electroboy» (Marcel Gisler, Schweiz 2014) – Semaine de la Critique
Was zeichnet Hochstapler aus? – Sie täuschen nicht nur Opfer, sie parodieren auch das System! – Denn geschriebene Gesetze funktionieren nur dank den ungeschriebenen! Diese machen den sozialen Kitt aus, das ‚Comme il faut’. Wer sich an die ungeschriebenen hält, kommt mit den geschriebenen kaum je in Konflikt. ‚Erfolg’ definiert sich meist durch den Pfad der Tugend entlang dem Wertekanon. Der gängige Intelligenzbegriff orientiert sich am Erfolg. Das ergibt einen Kreislauf des Gehorsams, was die Intelligenz begrenzt. Vielleicht müsste man sie am Beispiel der Hochstapler neu definieren: Nicht nur als Fähigkeit zur Analyse des Gegebenen, zur agilen Opportunität, sondern auch zu Missbrauch und Parodie. So geschehen schon im Fall des Hauptmanns von Köpenick alias Schuhmacher Voigt, der sich 1906 als Offizier ausgab und am helllichten Tag die Stadtkasse plünderte.
Heute wiegt Ruhm viel mehr als Geld, das in der Schweiz genug vorhanden ist. Ruhm ist die Währung des Medienzeitalters. Also träumte Florian Burckhardt, geboren 1974 in Basel, nach Abitur und Primarlehrerdiplom von ‚Hollywood’, während er auf dem Snowboard hohe ‚Flips’ stand und ‚Lines’ zog. 1993 war das Pionierzeitalter der ‚Rider’, die auch eine neue Ästhetik begründeten, einen Life Style in ‚Sack’-Kleidung mit hippem Layout in Szenemagazinen. Worin die Buch-staben der Titel genauso über Doppelseiten sprangen wie sich waghalsige Snowboarder in die Tiefe stürzen. Als Gründer von Independent und Freelancer bei Board Generation mit der höchsten deutschen Auflage, im Rückenwind eines neuen Werbemarkts, brachte er sein Selbstbewusstsein in die Startlöcher. Es brauchte nur noch einen hübschen Anzug, Brillantine im Haar, einen zudienenden Kumpel, und los ging der neue ‚Rodolfo Valentino’ aus der kleinen Schweiz in die Schwulenszene von L. A. Mit einem One-Way-Ticket, wird schon. Hinein in den Molloch, der Millionen Träume verschlingt und wieder ausspuckt. Er erfand sich eine Curriculum, das niemand in Zweifel zog, noch überprüfte, da in USA die Schweiz zum Verwechseln fern ist mit Schweden. Er gab sich im Rausch seines Spiegelbilds als Star aus und wurde auch einer. Nicht im Filmgeschäft, aber auf dem Laufsteg für Dolce & Gabbana, Prada und Gucci, von L. A. nach Mailand, London und Tokio: Swiss ‚Wonderboy’ und Dorian Gray. Atemberaubend auf der hohen Leiter, bis zum Sturz, der immer kommt. Früher oder später. Bei ihm später. Er umschifft diesen mit plötzlichen Kehrtwendungen, lässt Verehrer, nicht Verehrerinnen, mit Tränen in der Leere stehen, während er die seine mit neuen Höhenflügen aushebelt, als gäbe es kein Gesetz der Schwerkraft: Wieder in Zürich und in Berlin organisiert er riesige Parties, klotzt 5 CDs mit Elektropop, definiert selber, was wer, wenn nicht er ansagt, und Tausende hippen mit – er wird «Electroboy», brandet sich selbst als Label. Zieht nahtlos bei R.O.S.A.S. ein, der Pionier- und Top-Werbeagentur für crossmediale visuelle Kommunikation, tüftelt auf dem vergoldeten Stuhl an bunten Filmchen für die Webseiten grauer Mäuse, sprich Marketingleiter namhafter Konzerne, die auf der neuesten ‚Wave’ der Jugend mitsurfen wollen zu besseren börsenkotierten Bilanzen. Aber jede rollende Welle hat ein Ende, ufert leise aus, versickert im Sand…
Als wäre nichts gewesen. Und doch war da vieles: Fotos, Interviews, Erstaunen und gebrochene Herzen. Und immer wieder die knappen, beissend intelligenten Einsichten eines genialen Hochstaplers, warum alles so kam, wie es unmöglich schien. Heute ist Florian Burckhardt nur noch ein Schatten seiner selbst, wenn er sich je war, oder nur ein Spieler jetzt ohne Karten, lebt er isoliert, lichtscheu und multiparanoid mit seinem Hund in einer mittleren deutschen Stadt – im Grauen.
Der Dokumentarfilm Electroboy hätte den Preis der ‚Semaine de la Critique’ mehr als verdient – und ging doch leer aus. Nicht nur, weil ein Hochstapler, der zumindest zeitweilig reüssiert, den Verhältnissen gnadenlos den Spiegel vorhält, sondern auch, weil in diesem ‚Cinema vérité’ ein Stück reale Therapie stattfindet:
Wir werden Zeuge des Treffens einer Familie, zerrüttet seit dem frühen Unfall-tod des Bruders, am Steuer der Vater mit übersetzter Geschwindigkeit – als An-fang vom Ende. Und sehen real life zu, wie aus dem vermeintlichen Ende wieder ein Anfang wird. Das ist viel authentischer als das bereits besprochene Porträt Cure (Sabine Gisiger) über Verdienste eines etablierten Therapeuten in USA.
«Frère et Sœur» (Daniel Touati, France 2014) – Cineasti del presente
«Filme über Kinder sind kinderleicht, Du brauchst nur eine Kamera hinzustellen,» schnarrt der Soziologieprofessor aus Mailand etwas verächtlich. Indes andere, den Schreibenden inbegriffen, verzückt aus dem Dunkeln in den Regen treten. Aus einem wunderbaren Universum von Spiel und Ernst der Geschwister Marie (8) und Cyril (6), die sich völlig frei vor der Kamera bewegen. Was allein schon eine Meisterleistung ist. Zu diesen beiden Selbstdarstellern und Laien ein solches Vertrauen aufzubauen, ihnen so nah auf die Gesichter zu rücken, sie so geduldig während zwei Jahren zu beobachten – wie sie sich die Welt aneignen. Wir sind live dabei, wie Gedanken in Sprache springen, lesen die Mimik ihres ersten autonomen Denkens. Dabei ist diese Welt der Kinder nicht viel anders als die Erwachsener. Wir erkennen uns wieder. Die ganze Klaviatur der Gefühle der Spezies Mensch ist schon da, nur weniger gefiltert, wird laut und leise, kreativ und destruktiv – sucht aus Zorn über eine Kränkung nach einer Lösung. Genauso ist es, wenn wir imitieren, belehren und posieren. Und auch Kinderhumor ist, wenn diese trotzdem lachen.
Wir sind als einzige Erwachsene zugegen – im Zuschauerraum. Auf der Leinwand bleiben die raren Stimmen der Eltern strikte im Off. Das ist der Kunstgriff dieses erstaunlichen Kinderporträts. Das macht die Bühne frei für ein Welttheater im Kleinen von atemberaubender Präsenz. Keine Sekunde ist vertan. Wir lauschen jedem Ton und Wort, nehmen teil an der genuinen Hingabe. Wie der Zauber von Musik und Tanz entsteht, diese in bereits grosse Persönlichkeiten übergehen. – Dennoch brechen sich an diesem Meisterwerk eines Dokumentaristen unsere Geister, wie auch der kleine Bruder und seine grössere Schwester selten einer Meinung sind. Was beweist, das Kino ist trotz TV und Web auf dem iPad noch längst nicht tot. Solange es Freunde zum Diskurs herausfordert. Kinderleicht.
Grenzen ‚mitten durchs Herz’
Für viele bedeutet ‚Freiheit’ kaum mehr als eine Zigarette rauchen oder ‚freie Fahrt für mein schnelles Auto’. Deshalb denken Mehrheiten über Minderheiten, die nach mehr ‚Freiheit’ verlangen: «Was bilden die sich ein!» –
Grammatikalisch ist das eine Frage, also müsste man den Satz mit einem Frage-zeichen versehen. Aber solches Denken ist kein Fragen. Wer kaum je ‚Freiheit’ beansprucht, noch vermisst, will auch nichts von ihr wissen. Der Satz wirkt sich folglich als Anklage aus gegen alles Fremde – er ist ein Abwehrreflex all jener, die sich als Tugendwächter in ihrem Gefängnis zu dessen Türsteher machen. Gar noch missbräuchlich mit dem Schlagwort der ‚Freiheit’. Damit outen sich alle Populisten – auch in der Schweiz. Bis auch diese Türsteher mal an eine Grenze kommen, wo ihnen der Durchgang verwehrt wird. Dann erst fängt menschliches Bewusstsein an – mit der Frage nach der ‚Freiheit’: Wenn man Fragen stellt, statt diese mit vorfabrizierten Antworten zu verhindern.
Mauern sind auch solche fraglosen Antworten – willkürlich errichtet quer durch die Landschaften und zwischen Volksgruppen. Territorien und Ideologien sind ebenso starre Ausrufe- statt Fragezeichen. Nur Fragen führen zum Frieden, denn sie bedeuten das Menschenrecht auf Respekt. ‚Offizielle’ Antworten wollen meist Fragen abwiegeln. Fragekultur ist Friedenskultur – ihr Gegenteil ist die Diktatur.
Als Francis Fukuyama 1992 in Harvard seine These vom «Ende der Geschichte» formulierte, war das eher grenzenlos naiv, als in seinem Denken grenzenlos frei. Er war als Amerikaner nach dem Ende des Kalten Kriegs typischerweise noch befangen im Blockdenken. Somit verstand er den glücklichen Fall der Mauer 1989 als Heilsversprechen für eine nun freie Welt. Womit er ‚Geschichte’ als fortschreitende Befreiung definierte. «Befreit» zum Kapitalismus höre sie auf. Wir wissen es heute besser. Auch nach Auflösung der Sowjetunion und ihrer totalitären Ideologie herrscht nach wie vor fast überall Unfreiheit und Gewalt. Das macht die ‚Geschichte’ weiter notwendig als Summe aller ‚Geschichten’. Um auch Jean-Luc Godard zu widersprechen, der einen ebenso törichten Satz wie Fukuyama von sich gab: «Man kann im Kino heute keine Geschichten mehr erzählen. Es ist schon alles gesagt.»
Nein, wir müssen die Geschichten des ewigen Menschentraums von der ‚Freiheit’ immer wieder erzählen. In allen Schattierungen und widersprüchlichen Facetten. ‚Freiheit’ definiert sich meist durch ihre Bedrohung. Sie ist nebst der ‚Liebe’ des Menschen kostbarstes Gut. Das sind auch die wichtigsten Inhalte der Filmkunst als Raum für Utopie. Auch die ‚Liebe’ verbindet sich mit der Freiheit oder erstickt an ihrem Gefängnis. Beide leben von echten Fragen und ehrlichen Antworten. Es gab dieses Jahr in Locarno noch einige Filme, die sich diesen Achsen der Existenz – «x» für Freiheit und «y» für Liebe – bemerkenswert stellten:
«Exit» (Chienn Hsiang, Taiwan/Hongkong, 2014) – Cineasti del Presente
Am Anfang dieses ebenso zarten wie harten fernöstlichen ‚Kammerspiels’ wird Ling, eine alleinstehende Näherin von 45 Jahren, entlassen. Immerhin darf sie eine Nähmaschine mit nachhause nehmen, die wie sie nicht mehr gebraucht wird. Damit führt sie Reparaturen aus, näht Ballkleidchen für jüngere Frauen, die Tango tanzen und noch aktiv sind auf dem Heiratsmarkt. Während sie selbst, viel zu früh im Klimakterium, als Frau ‚nicht mehr reproduktiv’ ist. Ihr Mann hat sich aus dem Staub zu einer anderen gemacht. Ihre Tochter drückt alle ihre Anrufe weg. Der einzige Mensch, den sie noch sieht, ist die eigene Mutter im Spitalbett.
Bis hierher also ‚Bonjour Tristesse’, Depression pur. Wer noch im Kino sitzen bleibt oder diese Kritik weiter liest, muss ein Masochist sein. Der liebt morbides Licht in anonymen Wohnkasernen und sterilen Fastfood vom Plastiktresen. Der hat nicht schon Dutzende lamentable asiatische Grossstadtdramen gesehen als einzige Alternative zu den noch mehr verbreiteten Metzeleien von Mafiagangs auf Motorrädern mit Kung-Fu-Akrobatik. Wofür sich eine hohe Funktionärin der «Asian Movie Industry» auch noch im Rampenlicht der ‚Piazza Grande’ brüstete.
Doch Exit hält eine unerwartete Überraschung bereit für den, der sitzen bleibt. Im Spital liegt im Bett gegenüber der Mutter hinter dem Vorhang ein Verletzter, der trotz Morphium unsäglich stöhnt. Er wird kaum betreut, weshalb sich Ling verstohlen seiner annimmt, womit sie mit aller Konvention bricht. Sie benetzt seine spröden Lippen, kühlt seine Stirn. Es erwacht eine Liebesgeschichte nur zwischen zaghaften Händen. Sie kennen sonst nichts vom andern, werden sich nie in die Augen sehen, denn der verletzte junge Mann ist vorerst blind und dann entlassen. In ihrer geringsten Berührung findet das tiefste Geheimnis und grösste Leidenschaft statt. Ein stummer «Pas de deux mains» als Tanz voller Schönheit, mit aller Zärtlichkeit und Wucht der Liebe. Was die Taiwaner Schauspielerin Chen Shiang-chyi hierbei mimisch filigran ausdrückt, wie viel ihr Gesicht wortlos erzählt, ist absolute Weltklasse von Schauspielkunst und erschüttert durch eine kaum erwartete Botschaft: Denn Exit meint nicht den Tod, sondern das Leben, diesen vitalen Ausbruch aus Schmerz und Einsamkeit in die Freiheit zur Liebe. Exit war in der Meisterschaft der Reduktion, im bezaubernden Schattenspiel sich findender Hände, wohl kaum je wurde Vereinigung schon so zart dargestellt, auch ein stilles Highlight des diesjährigen Festivals, das leider ohne Preis blieb.
«Broken Land» (Stephanie Barbey, Luc Peter, CH 2014),
Semaine de la Critique
Die zwei wichtigsten Grenzverläufe der Welt trennen nicht nur Kontinente, den armen Süden vom reichen Norden. Es findet an ihren Zäunen, Gräben, Wachtürmen, Radar- und Hundestationen, mittels Drohnen und Bodensensoren, auf ihrem Wasser und in ihren Wüsten auch ein Kulturkampf um Zivilisation statt.
Die Flüchtlingsströme von Südamerika nach USA und von Afrika nach Europa werden immer grösser, die Schlepper noch ausbeuterischer, die Todesfälle zur Normalität. Darüber wird täglich berichtet, die Reizschwelle für Anteilnahme innerhalb der Komfortzonen immer drastischer. Die Dramen, wem es hinüber gelingt, setzen sich auch jenseits der Grenze fort. Die Immigranten werden zur politischen Manipulationsmasse für rechtsnationale Populisten und ihre blind-wütigen Anhänger, welche die nördlichen Demokratien und von der Verfassung garantierte Bürgerrechte aushebeln.
Die «Tortilla Wall» erstreckt sich von den Grenzstädten San Diego und Tijuana am Pazifik über 3’144 Kilometer bis nach Brownsville (Texas) am atlantischen Golf von Mexiko. 2006 überquerten offiziell 250 Millionen in beiden Richtungen die Grenze, geschätzte 350’000 Menschen wandern jährlich illegal in die USA ein. 2000 werden tot geborgen – verdurstet oder erschossen (Quelle: Wikipedia).
Es gibt schon etliche Fernsehdokumentationen über den martialischen Zaun, die Massen, die ihn anstürmen, und die militärisch hochgerüsteten Grenzpatrouillen, die genau das verhindern wollen. Aber noch nie galt ein Dokumentarfilm jenen Amerikanern, die in diesem ‚No Man’s Land’ von willkürlicher staatlicher Grenze eingesperrt sind, so dass Indianer ihre Heiligtümer in Sicherheitszonen nicht mehr besuchen können und Familien in einem Klima der Menschenjagd mit ihren Kindern leben müssen: «Sie geben vor, die Grenze für uns zu beschützen, und machen unser Leben zur Hölle. Täglich müssen wir auf dem Schulweg mehrere Checkpoints passieren. Sie kontrollieren uns immer wieder, obschon sie uns alle kennen. – It’s hard to teach my kids any trust because in the outside world is con-stantly fear!» – Dieser besorgten Mutter stehen geduldete, auch in gefälschten Uniformen mordende Bürgerwehren gegenüber mit Jagdinstinkt, aber wenig Bildung: «Das ist doch kein Rassismus, wenn wir unsere Grenze verteidigen. Wir wissen nicht, haben sie Bomben, sind es Mörder. Wenn wir diesen Zaun nicht hätten, wie viele, glauben Sie, würden von Bangladesh hierher kommen? – Millionen! Wir verteidigen hier den höchsten Lebensstandard und die beste Nation der Welt gegen das ganze Universum.» – Deshalb hängt am fünf Meter hohen Wüstenzaun in Riesenformat ein frostiges Plakat: …Good fences make good neighbours. Robert Frost.» Die Wirkung ist bescheiden.
Broken Land ist auch eine Suche nach den Spuren von Tausenden jungen Männern, die unter Lebensgefahr ihr Glück und das ihrer zurückgelassenen Familien suchen. Direkt sehen wir keinen einzigen Flüchtling. Erfahren aber von Anwohnern, die auch illegale Hilfe leisten, Verpflegung und Wasservorräte hinterlegen, dass die häufigen Bussarde hier alle fett wären von den Leichen. Von einigen landen die sterblichen Überreste, wobei auch die Gebeine noch ihre Geschichte erzählen, von Alter und Herkunft, bei einfühlsamen Anatomen in den Grenzspitälern, die bemüht sind, die Angehörigen zu verständigen, wenn sich diese aus Fotos und Ausweisen erschliessen lassen: «Das Schlimmste ist, wenn Familien, Mütter und Kinder Jahre in Ungewissheit ausharren, ob ihre Liebsten noch leben!» – So sind auch an der Grenze des ‚American Way of Life’ alle menschlichen Gegensätze sesshaft. Die Fratze und das Lächeln. Broken Land gibt diesem Schweigen in der Wüste, den leeren Kanistern, der Würde mancher letzten Behausung unter kargen Büschen verstörende Bilder und Stimmen, die noch lange nachklingen.
«Dancing Arabs» (Eran Riklis, Israel/Frankreich/D 2014) – Piazza Grande
Eyad (14) ist ein hochbegabter Schüler und der ganze Stolz seiner arabischen Familie. Sein Vater wurde einst von der Universität ausgeschlossen wegen der Teilnahme an Demonstrationen für die Rechte der Araber. Eyad soll nun dessen gesellschaftliche Ehre wieder herstellen. Wegen seiner Bestnoten erhält er tat-sächlich einen Freiplatz an der renommiertesten High School Jerusalems mit kreativen Freiheiten wie auf einem amerikanischen Campus: Man spielt Theater, musiziert und zitiert europäische Freigeister. Dabei werden er und die sinnlich offene Naomi zum innigen Liebespaar. Bis deren Eltern aus der jüdischen Elite davon erfahren. Nun zeigt sich unter dem liberalen Firnis nackter Rassismus. Naomis Eltern wollen sie von der Schule nehmen. Stattdessen verzichtet Eyad und nimmt einen Job als Tellerwäscher an. Sein ehemaliger Zimmerkumpel Jonathan leidet an Muskelschwund, kann ebenfalls nicht mehr zur Schule. Eyad nimmt die Einladung der Mutter an, Jonathan zu betreuen und wird zu dessen Sterbebegleiter. Naomi fällt nach anfänglichem Liebeskummer nicht weit vom Stammbaum und macht Karriere in einer Eliteeinheit der Armee, was zweifellos ihr akademisches und berufliches Fortkommen in der ausgeprägten israelischen Ständegesellschaft befördern wird. Deren unterste Stufe die Araber einnehmen, obwohl ebenfalls Bürger Israels. Als Jonathan stirbt, nimmt Eyad mit Einverständnis der Mutter dessen Name an und schafft unter falscher Identität die Aufnahme an die Universität.
Dancing Arabs zeichnet liebevoll und farbig verschiedene Milieus im modernen Israel, deren oberflächliches Zusammenleben, aber auch dessen rigide sozialen Trennwände, welche Eyad den Aufstieg zum Akademiker nur unter Verleugnung seiner wahren Herkunft möglich machen. Dabei ist Dancing Arabs wohl ebenso ein Klischee für arabische Lebensfreude wie wir gerne das alljährliche Tanzfest der Zigeuner in Saintes-Maries-de-la-Mer als Folklore besuchen, zuhause aber ihre Standplätze meiden. Dancing Arabs ist bei aller Psychologie der Figuren eine bittere Anklage gegen den Staat Israel und seine Elite. Der einst gegründet von Verfemten, längst selber zum Rassismus neigt. Aus Opfern wurden Täter.
«Durak» (Yury Bykov, Russland 2014) – Internationaler Wettbewerb
Man nehme die Pressefotos von Wladimir Putin der letzten Monate, höre seine Friedensrhetorik mit leiser Stimme und einem Blick aus blauen Augen wie der Heilige von El Greco, was schon Georg W. Bush und Gerhard Schröder irreführte, nun auch noch alle ‚Putinversteher’, was wohl auch an der Intelligenz liegt – und befindet sich schon inmitten der Geburtstagsfeier von Durak (der Verrückte) von Honorablen einer russischen Kleinstadt. Es wird Wodka kredenzt (credere = glauben) auf die Verdienste von «Mutti», der Bürgermeisterin, welche die Stadt in zwanzig Jahren hochbrachte. Das ‚Familiäre’ suggeriert soziale Verbindlichkeit, kaschiert aber nur das reale Machtgefälle. Stalin hatte den Beinamen ‚Väterchen’.
«My film represents most of Russian life. The models of human relations that have existed for hundreds of years. Russian politics is based on lies,» sagt der 33-jährige Yury Bykov von seiner Hardcore-Parabel über korrupte russische Zustände. Wir wollen die Russen nicht verteufeln. In Missing (Costa-Gavras, 1982) lügen die Amerikaner genauso über das Verschwinden eines Studenten in Santiago, als der CIA Agusto Pinochet an die Macht mordete. Auch Henry Kissinger kann bis heute dreist darüber lügen. Lüge scheint der Kitt einer jeden Pyramide aus Willkür und Macht.
Ein Hochhaus ist eine Konstruktion wie die Gesellschaft, beide ruhen auf einem Fundament. Wenn sie solide gebaut sind. Die Zweckentfremdung von Budgets in Privatschatullen statt in die öffentliche Bausubstanz kann beides zum Einstürzen bringen. Lügengebäude haben eine schlechte Statik. So neigt sich das Hochhaus an diesem Abend der Geburtstagsparty gefährlich im Schneetreiben und Wind. Dima Nikitin, ein grundehrlicher Klempner der Stadtverwaltung, entdeckt einen Riss durch alle Badezimmer und Stockwerke. Er eilt ans Fest und schlägt bei den Verantwortlichen Alarm. Man müsse sofort evakuieren. Diese wimmeln ihn erst ab, schimpfen ihn inkompetent. Endlich inspizieren zwei Stadträte die Gefahr vor Ort. Es ist ihr Todesurteil. Denn nun sind auch sie Zeugen. Die Rettung käme zu teuer. Also tun die Verursacher der Missstände gar nichts. Auch «Mutti» sind die Hände gebunden, weil in der Nomenklatura jeder des andern ‚Einkünfte’ weiss. Auch die Bürgermeisterin verdankt ihre Karriere dem Polizeichef. Der lässt als Symbolfigur für die Macht noch immer in Händen von Militär und KGB (heute FSB) seine Kollegen Zeugen von der Miliz erschiessen. Nur Klempner Nikitin lassen sie laufen, ein russischer ‚Michael Kohlhaas’, der statt mit seiner Familie zu fliehen, auf eigene Faust versucht, die asozialen Bewohner aus dem Wohnsilo zu retten. Als grausame Ironie auf die Geschichte von seinem Idealismus wird er nicht von der staatlichen Mafia, sondern von denen, die er retten will, gelyncht.
Es ist erstaunlich, dass ein so hart gezeichnetes politisches Drama mit scharfer Kritik an Putins ‚System’ gerade jetzt den Weg in den Westen findet. Noch muss es in Moskau liberale Kräfte geben, die Oppositionelle gegen wiedererwachten Staatsterror unterstützen.
Trotz der fatalen Endzeitgeschichte – wie Kafkas Romane von allegorischer Tragweite – will der Regisseur seinen Film, beruhend auf eigenen Erfahrungen, dennoch nicht als pessimistisch verstanden wissen. Die Botschaft des Films sei letztlich hoffnungsvoll. Indem sich der Klempner, ein Mann aus dem Volk, der Zynik des Apparats und der Korruption entgegenstellt. Für seine starke Interpretation des Zivilisten Nikitin, der einfach nur Verantwortung übernehmen
will und dabei zu Tode kommt, erhielt Artem Bystrov in Locarno den ‚Goldenen Leoparden’ für die beste männliche Hauptrolle.
«The character wins when he does everything he can possibly do to succeed. What is important is to try. The result is not important. The attempt to reach success is important, regardless of whether success comes or not.» – Zu einem Vergleich mit Dostoyevsky’s Idiot (Durak!) winkt Regisseur Yury Bykov ab: «Dostoyevsky’s character is pathological. My film’s character is pragmatic, but he has a moral code. The character is not affected by this social disease. Thank God these people exist to give us this high example of truth. We need such people.»
Auf dem Maidan in Kiew versammelte sich gerade eine solche Zivilgesellschaft und verlangte erfolgreich nach mehr Selbstbestimmung für sich und die Ukraine. In alten Reflexen behaftet von 1956 und 1968, inszeniert Russlands Führung aus der ideologischen Schule des ehemaligen KGB wieder einen Krieg, der sich zum Brandherd auch für Europa auszuweiten droht. Einmal mehr stehen Panzer gegen Freiheit. Die Geschichte lehrt, die Freiheit ist letztlich nicht aufzuhalten.
«Mula sa kung ano ang noon» (Lav Diaz, Philippinen 2014),
Internationaler Wettbewerb
Die fast sechs Stunden Länge von Woher wir kommen in deutscher Verkürzung des Siegerfilms des Internationalen Wettbewerbs von Locarno 2014 sind bereits Legende. Solchen Legenden geht ihr Ruf voraus, selten nach, denn die wenigsten haben das Original in voller Länge gesehen. Gelegenheit dazu wird nebst weiteren Festivals auch kaum mehr sein, denn nur wenige Liebhaberkinos werden das gewaltige Epos zeigen, vielleicht ARTE im Nachtprogramm. Schon mal hielt sich ein Film an keine Vorgaben des Vertriebs und Marktes: Ariane Mnouchkine und ihr Pariser Théâtre du Soleil bei der Verfilmung von Molière (1978), ebenfalls ein überwältigendes Epochenbild von 4–5 Stunden Länge auf der persönlichen ‚Longlist’ der 50 besten Filme aller Zeiten. Dieses Werk gibt es nur noch auf DVD.
Ganz ähnlich verhält es sich in der Literatur etwa mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, dessen tausend Seiten kaum jemand durchsteht. Gleichwohl spricht ‚man’ – weit mehr als die Leser – von einem Jahrhundertwerk. Und wie sich Musil die Freiheit nimmt, auf den ersten Seiten einfach nur die Wolkenlage über Wien an einem Augusttag vor dem ersten Weltkrieg zu beschreiben, wie er über die Meteorologie die zunehmende Spannung beschreibt, die sich als Ernst Jüngers Stahlgewitter tödlich entladen wird, so entwickelt auch Lav Diaz in Mula sa kung ano ang noon erst allmählich die Zeichen der Zeit, welche ins Kriegsrecht und die Diktatur von Ferdinand Marcos (1972 – 1981) münden.
Doch diese Diktatur ist nur ein Symptom der Verhältnisse, nicht deren Ursache. Der Spielfilm zeigt in Schwarzweiss eine vorindustrielle Gemeinschaft auf dem Lande zwischen gackernden Hühnern, Reisfeldern und Ozeanklippen, wie sie nicht nur in Asien immer noch vorzufinden ist. Der Verzicht auf Farbe hat nicht nur ökonomische Gründe, sondern macht die Szenerie noch suggestiver, reduziert von jeder Ablenkung. Die Radikalität der Bilder und Handlung erinnert an Suna no onna (Die Frau in den Dünen) von Hiroshi Teshigahara, Japan 1964.
Das Dorf ist ein klassischer Huis clos, ein überschaubarer Kosmos mit Figuren, die nicht von ihm loskommen. Sie zappeln wie in einem Spinnennetz in ihrer Verstrickung. Ein Waisenjunge wächst bei seinem ‚Onkel’ auf, der ihm erzählt, seine Eltern hätten ihn für immer verlassen. Am Ende des Films erfahren wir: er ist selbst der Vater des Jungen und hat als Liebhaber der Mutter diese und ihren Mann erschlagen. Da ist eine junge Frau, die ihre epileptische Schwester pflegt, mit dieser Bürde allein gelassen, diese zuletzt vergiftet und mit ihr ins Meer geht. Da ist der Priester, der nur das Beste will und im entscheidenden Moment das Schlechte tut. Als revolutionäre Banden infiltrieren und der autoritäre Staat als Antwort eine Militärbasis errichtet, erscheinen diese nur als logische Ausbrüche aus der sozialen Enge. Diese Ereignisse haben auch einen historischen Bezug.
Was das posthume Gemälde des philippinischen Regisseurs von seiner Kindheit auszeichnet, ist wie er dies zeigt: Er hält tatsächlich die Lupe auf die Zeit, lässt sie geschehen, unterwirft die Bilder wieder ihrer unaufgeregten Ruhe, erdet sie an den Dingen, wie sie sind. Das ist weder lang- noch kurzweilig. Gut Ding will Weile haben. Denn nach anfänglichem Widerstand gegen diese «Echtzeit» ohne übliche Verkürzung und Beschleunigung unterwirft man sich ihrem Diktat. Plötzlich ist man nicht mehr nur Betrachter, sondern tritt selbst ein in diese archaische Welt.
Die Bilder beginnen zu atmen und wir in ihnen. Wir sitzen nicht mehr im Kino, sondern vor Ort. Werden vom steten Monsunregen ebenso nass – im Trockenen.
Ein solches Wagnis gegenüber dem Zuschauer setzt sehr viel Mut voraus. Auch Andrei Tarkovsky ging es ein, bezeichnenderweise – im Titel wesensverwandt – in Nostalghia (Russland/Italien, 1983), worin ein tropfender Wasserhahn die Zeit wieder dehnt in ihr echtes Erleben. Blicke ich nach Jahrzehnten auf diesen Film zurück, so weiss ich nichts mehr von dessen Handlung – der Wasserhahn tropft noch heute. Genauso verhält es sich mit einem Film von Ingmar Bergman, dessen Titel ich nicht einmal mehr erinnere. Doch seine Wanduhr tickt weiterhin in den Raum, macht die Zeit spürbar auf ihrer ewigen Bahn entgegen all unserer Zerstückelung. Woher wir kommen meint auch uns. À la recherche du temps.
Wahrscheinlich macht genau dies das Geheimnis filmischer Meisterschaft aus: Im Kern geht es nicht um die Handlung, deren Sinn und Zweck, sondern um die inneren, metaphysischen Bilder – ein tropfender Hahn, die Stundenglocke einer Uhr. In Mula sa kung ano ang noon ist es stetiger Monsunregen als Trauer über die Verlorenheit der Existenz und der Sturm der Meeresbrandung als ihre Wut.