Finis Terrae – Auf Weltreise am Filmfestival in Locarno

Filmfestival Locarno
Kulturkritik ist am 67. Filmfestival Locarno. Der Filmkritiker Andy Eglin begleitet das Festival und berichtet live.
Der Autor
Andy Aguirre Eglin: Filmkritiker, Autor und Kulturjournalist.
Von Andy Aguirre Eglin, 14.8.2014
Was unterscheidet Ferien von einer Weltreise? – Urlauber besuchen meist einen Fluchtort, in dessen Umkreis sie Land und Leute erkunden. Oder der Zauber des Altbekannten hält an, man erwartet einmal mehr Sommerfrische und Erholung.
Weltreisende öffnen sich dagegen zeitlich und weitlich ungleich mehr, sie lassen sich auf Risiken und Nebenwirkungen ein, für die kein Apotheker Rat weiss. Eine Weltreise verlangt nach Entscheidung. Man bekennt sich zum Unbekannten. Das Ende ist nicht abzusehen. Vielleicht kommt alles ganz anders, als man nicht mehr denkt. Weltreisende haben eine absolutere Lebenshaltung: Man wagt sich hinein und hinaus. Man lernt Lieben und Fürchten.
So ähnlich verhält es sich jeden August wieder am Filmfestival in Locarno. Es gibt die Urlauber als Zaungäste, gebändigt durch Schleusen der Organisatoren, die sich den Abendfilm vornehmen als kulinarisches Häppchen. Nicht im Grotto, sondern auf der Piazza. – Und es gibt Süchtige des Kinos, die wir uns freiwillig trotz Sonnenschein (diesmal Regenwetter) in dunkle Säle hineinsetzen, um uns zu berauschen und zu verlieben. Oder zu bestürzen. An der magischen Vielfalt. Am Unendlichen. Wir bleiben vor Ort und reisen doch um die ganze Welt. Keiner ist nachher derselbe wie zuvor. Warum dieses Erschauern, warum diese Sucht? – Was macht den Film nicht nur zur siebten, sondern zur Kunst aller Künste, worin auch alle anderen Platz haben? – Es sind jedenfalls nicht die Events, die mit dem Erfolg von Locarno jedes Jahr noch zunehmen, von mehrheitlich Mitläufern mit Filmkultur verwechselt.
Lucy (Luc Besson, Frankreich 2014)
Es ist auch keine europäische «Kiste» von Hollywoods Gnaden wie Luc Bessons Lucy, der diesjährige Eröffnungsfilm unter dem Mond und Campanile. Es sind nicht Industrieproduktionen aus einer Albtraumfabrik mit groteskem Aufwand für Autojagden und Mordorgien, worüber man als Heldin noch das liebreizende Gesicht der Kindfrau Scarlett Johansson stülpt und futuristisches Horrorgenre designt. Wonach der Mensch nur 20% seiner Hirnmasse aktiviert: Was wäre, wenn er 100% nutzte? – Eine Pseudofrage zu einem Pseudothema als pseudo-philosophische Legitimation für teuren visuellen Aktionismus, der auf erfolgreiche Vorläufer schielt wie Kill Bill (2003) von Quentin Tarantino mit Uma Thurman. Nein, von diesem Erschauern nur am Nervenkitzel schreibe ich hier nicht. Solche Sucht gehört in die Game Industry, bitte weniger auf die Leinwand.
Viel Konstruiertes, wenig Verdichtetes
Was ich hier zu beschreiben versuche ist das mögliche Unmögliche: Dass ein Film als Kunstprodukt dennoch den Schauer der Wirklichkeit trifft, an wirklich grosse Gefühle anzapft. Dass bewegte Bilder bewegen, nicht nur überfluten, als verdichtete Geschichten, Metaphern einer existenziellen, universellen Wahrheit. Verdichtung hat sehr viel zu tun mit Sinnlichkeit: Kunst als Anregung der Sinne. Erst erwachte Sinne ergeben einen Sinn und Zusammenhang, der nicht nur ein konstruierter ist, eine Kopfgeburt von Schreibtischtätern auch der Filmbranche. Nehmen wir als oft gezeigtes Beispiel das Meer. Es steht fürs Unendliche, für das niemals zu klärende Geheimnis des Lebens, das uns ebenso anzieht wie ängstigt. Die nicht zu fassende, stets bewegte Körperlichkeit entrückender Wellen wird von Filmemachern gern benutzt als ‚Gratiskulisse’, dem aber nur die wenigsten Geschichten gerecht werden.
Der Anspruch an Dichte und Wirklichkeit, ob eine Filmgeschichte glaubwürdig wird, meint nicht nur die Materie. Auch Visionen, Hirngespinste, das Innenleben der Figuren einer Geschichte haben teil an deren Verdichtung, ob dem Zuschauer ein Film unter die Haut geht. Fiktion und Dokumentarisches fliessen ineinander. Dieses Jahr versuchten sich in Locarno drei Filme am Kosmos und Topos ‚Meer’:
Cure – The Life of Another (Andrea Štaka, Kroation / Schweiz 2014)
Heilung als eine andere spielt 1993 kurz nach dem Ende des Balkankriegs. Die Hügel über dem prächtigen Dubrovnik, obwohl Weltkulturerbe, im Krieg beschossen, sind noch vermint. Ein gefährlicher Spielplatz für die 14-jährige Linda und ihre neue Freundin Eta, für ihre erwachende Sexualität. Linda ist aus der Schweiz übersiedelt zu ihrem Vater, einem kroatischen Arzt. Bei einem Spaziergang der beiden Mädchen, die sich gegenseitig ebenso anziehen wie sie rivalisieren, geraten sie über den Klippen in Streit. Linda stösst im Affekt Eta in die Tiefe, wobei diese zerschmettert. Hier verlässt der Plot jede Bodenhaftung, auch jeden sinnlichen Bezug zum Meer. Der Film trieft nur noch von Schwermut und überladener Symbolik. Indem sich Linda bei den vom Krieg allzu sichtlich gezeichneten Angehörigen der Verunglückten selbst als Eta ausgibt. Die Last ihrer Schuld in eingebildeten Vexierbildern, verkettet mit dem nahen Trauma des Kriegs, ist kaum auszuhalten, so wenig kann man sie glauben. Das Problem sind nicht die Visionen als etwas wirre Introspektion in eine ebenso gepeinigte wie egozentrische Mädchenseele, sondern das Versagen der Regie im Moment nach dem ‚Todessturz’. Denn auch ‚filmechte’ Verzweiflung geht ganz nahe ran: Man kann den Tod eines eben noch Lebenden zuerst nicht glauben, muss ihn selber physisch nachvollziehen durch die Berührung der Leiche, versucht noch wachzurütteln, da jemand bereits ewig schläft. Das passiert nicht. Wir erfahren wenig über den weiteren Verbleib der toten Freundin, von keiner polizeilichen Untersuchung. Wir sehen nur immer ein schönes Mädchen (Sylvie Marinkovič) und die blaue Adria als Todesstätte – so unwirklich wie geschönte Postkarten.
Yalom’s Cure – Eine Anleitung zum Glücklichsein (Sabine Gisiger, CH 2014)
Auch im Porträtfilm über den 80-jährigen amerikanischen Psychiater und Bestsellerautor Irvin D. Yalom spielt das Meer eine Hauptrolle bei der Visualisierung von Seelenzuständen. Der Erfinder einer ‚existenziellen Psychotherapie’ spaziert nicht nur gerne entlang der lichtglitzernd mächtigen Brandung. Er taucht auch in sie ein, schnorchelt durch die Korallenriffe bei Hawaii. Die physische Verbindung zum existenziellsten Element der Elemente, zum Urweiblichen und Unbewussten wäre somit da, würde diese Unmittelbarkeit nicht wieder neutralisiert durch zuviel an Distanz, die auch eine der Elite ist. Der von Stanford emeritierte Professor sagt zwar einige wunderbare Sachen, sieht sich als Reiseleiter seiner Patienten. Mit einem schrieb er gar gemeinsam ein ‚Logbuch’ ihrer Therapie, das zu einem Standardwerk der wissenschaftlichen Literatur geworden ist: Everyday Gets a Little Closer (1974). Er rechnet sich auch selber zum allgemeinen Leiden: «Wir sind alle Patienten» und bedauert, dass das Instrument der Psychoanalyse jede Verliebtheit zerstören muss, während ‚Liebe’, auch die seine, nur überlebt als bewusste Entscheidung zweier durch ‚das Meer des Ungewissen’ stets getrennt bleibender Kontinente. Trotz Buchtiteln wie Momma and the Meaning of Life (1999) und Staring at the Sun: Overcoming the Terror of Death (2008) hält er das Konzept der Distanz gegen jede Verschmelzung aufrecht. Als hätte sich die von ihm geförderte Gruppentherapie nicht um körperorientierte Therapien zur Integration und Befriedung des Leidens am Tod erweitert. Auch der Film fragt nicht nach, sondern huldigt dem Schopenhauer zitierenden ‚Philopsychologen’.
So wirken die schönsten Bilder vom Meer den Gedanken aufgesetzt. Die Gischt springt nicht über. Der gepflegte Film bleibt trotz einer Intro von überirdischer Schönheit als Versprechen – der Hafeneinfahrt von New York mit Ellis Island,
wo die Eltern von Irvin D. Yalom aus Polen einwanderten, akademisch steril.
Fidelio – l’Odyssée d’Alice (Lucie Borleteau, Frankreich 2014)
Auf der Suche nach einem alle filmischen Sinne erregenden Werk, geprüft an der Darstellung des Meeres und Letztendlichen, werde ich auch dieses Jahr fündig. Schon 2013 war in Locarno der Dokumentarfilm Leviathan (Lucien Castaing-Taylor/Véréna Paravel, USA 2012) zu sehen über einen Kutter der US-Fischereiindustrie vor der Küste Mains. Ein Auftragsfilm des «Sensory Ethnography Lab» der Universität Harvard. Die audiovisuelle Sensation im rauen Wellenschlag auf hoher See aus dem Bauch eines stampfenden «Wals» verflachte allerdings in ihrer gespenstischen Wiederholung. Die New York Times schrieb dazu: «Conveys the brutal toll that the enterprise takes on the workers and on the ocean, and it could even be read as an environmental parable in which the sea threatens to exact its revenge on humanity.» – Was dem Ungeheuer Leviathan auf See im brachialen Lärm des Maschinenraums noch fehlte, erweiterte die junge Regisseurin Lucie Borleteau mit der Figur der attraktiven Bordingenieurin Alice (Ariane Labed) auf dem Tanker Fidelio um den Spannungsbogen eines realistischen Spielfilms zu einer auch lichtvollen Endzeiterfahrung der Ozeane. Wobei sie die bisher von Männern besetzte erotische Freiheit der Matrosen auch einer Frau zugesteht. Bemerkenswert ist dabei weniger diese Handlung vom Dilemma des Menschen zwischen Lust und Liebe, als die gelungene kinosinnliche Verdichtung von Zeit und Raum. Mehr geht nicht auf dem Weltmeer in Locarno.